Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
pvi_1174.001 Schließlich ist nicht zu übersehen, daß der Dichter auch jene stoffartigeren pvi_1174.038
pvi_1174.001 Schließlich ist nicht zu übersehen, daß der Dichter auch jene stoffartigeren pvi_1174.038 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0036" n="1174"/><lb n="pvi_1174.001"/> herausgeht, wenn er sich hier mit der Wolke hilft, die bei Homer nur die <lb n="pvi_1174.002"/> Unsichtbarkeit bedeuten soll. Er zeigt aber auch, wie der Maler mit den <lb n="pvi_1174.003"/> ungemeinen Größe-Verhältnissen der Göttergestalt in's Gedränge kommt, <lb n="pvi_1174.004"/> indem er ihr die übergroßen Dimensionen nicht geben kann, und er übersieht <lb n="pvi_1174.005"/> nur, daß er das an sich zwar könnte, da ja in der Malerei aller Maaßstab <lb n="pvi_1174.006"/> relativ ist (§, 649, 2.), daß aber doch diese Freiheit nicht schrankenlos <lb n="pvi_1174.007"/> benützt werden kann, weil im vorliegenden Falle durch die räumliche Fixirung <lb n="pvi_1174.008"/> so ungleicher Größenverhältnisse die <hi rendition="#g">Helden zu klein</hi> erschienen. Hier <lb n="pvi_1174.009"/> zeigt sich also, daß doch erst die Poesie auch in der Darstellung jeder <hi rendition="#g">Größe</hi> <lb n="pvi_1174.010"/> ganz frei sich bewegt. Aber noch mehr: die Größe des Götter- und Geisterleibes <lb n="pvi_1174.011"/> wächst für die Phantasie zu einer <hi rendition="#g">unendlichen</hi> an, dem äußern <lb n="pvi_1174.012"/> Auge ist sie begrenzt, richtiger: dem deutlich sehenden äußern Auge. Solches <lb n="pvi_1174.013"/> unbestimmtes Sehen kann nun der Maler schwer ausdrücken, denn so dämmernd <lb n="pvi_1174.014"/> und in Helldunkel verschwimmend er sein Object geben will, es hat doch zu <lb n="pvi_1174.015"/> viel Bestimmtheit, um den Abgrund von Staunen zu öffnen, den nur die <lb n="pvi_1174.016"/> Phantasie ohne die äußern Sinne kennt. Endlich genießt der Dichter noch <lb n="pvi_1174.017"/> einen besondern Vortheil, der in der Anm. zu §. 837 schon berührt wurde, <lb n="pvi_1174.018"/> wo von dem Charakter der Unendlichkeit die Rede war, der dem innern <lb n="pvi_1174.019"/> Bild eigen ist: er kann Handlungen so schildern, daß wir wissen, sie geschehen <lb n="pvi_1174.020"/> jetzt, daß sie uns aber zugleich verhüllt sind, im Dunkel vor sich <lb n="pvi_1174.021"/> gehen, oder so, daß Personen im Gedichte selbst darum wissen, sie aus <lb n="pvi_1174.022"/> andeutenden Zeichen errathen, sie sich vorstellen, aber ohne sie zu sehen. <lb n="pvi_1174.023"/> Hier ergeben sich denn dieselben ungeheuern Wirkungen, wie durch das <lb n="pvi_1174.024"/> halbdeutlich gesehene Wunderbare. Welche Hölle gräßlicher Entscheidung <lb n="pvi_1174.025"/> liegt in den Worten der Lady Makbeth: jetzt ist er d'ran! Der Maler <lb n="pvi_1174.026"/> mag wohl einen Lord Leicester darstellen, wie er verdammt ist, Moment <lb n="pvi_1174.027"/> für Moment den Hinrichtungs-Act der Maria Stuart sich zu vergegenwärtigen, <lb n="pvi_1174.028"/> man mag ihm den furchtbaren Vorgang in seinem Jnnern ansehen, <lb n="pvi_1174.029"/> aber wie ganz anders wirkt die Scene, wenn der Dichter durch seine Mittel <lb n="pvi_1174.030"/> uns zwingt, mit Leicester aus den dumpfen Lauten, die er vernimmt, uns <lb n="pvi_1174.031"/> das Bild des Gräßlichen zu erzeugen, das ungesehen von unserem physischen, <lb n="pvi_1174.032"/> wohl gesehen von unserem geistigen Auge vor sich geht! – Das sind denn <lb n="pvi_1174.033"/> lauter Vortheile, die Lessing wohl berechtigten, (Laok. Abschn. 14) zu sagen: <lb n="pvi_1174.034"/> müßte, so lange ich das leibliche Auge hätte, die Sphäre desselben auch die <lb n="pvi_1174.035"/> Sphäre meines innern Auges sein, so würde ich, um von dieser Einschränkung <lb n="pvi_1174.036"/> frei zu werden, einen großen Werth auf den Verlust des erstern legen.</hi> </p> <lb n="pvi_1174.037"/> <p> <hi rendition="#et"> Schließlich ist nicht zu übersehen, daß der Dichter auch jene stoffartigeren <lb n="pvi_1174.038"/> Sinne, die auf unmittelbarer Berührung, chemischer Auflösung der <lb n="pvi_1174.039"/> Körper beruhen, in Wirkung setzen kann und darf, da er ja an die <hi rendition="#g">ganze</hi> <lb n="pvi_1174.040"/> innerlich gesetzte Sinnlichkeit sich wendet. Diese Sinne liegen allerdings <lb n="pvi_1174.041"/> schon dem Charakter des Gehöres näher, zu dem wir erst übergehen; ihre </hi> </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1174/0036]
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herausgeht, wenn er sich hier mit der Wolke hilft, die bei Homer nur die pvi_1174.002
Unsichtbarkeit bedeuten soll. Er zeigt aber auch, wie der Maler mit den pvi_1174.003
ungemeinen Größe-Verhältnissen der Göttergestalt in's Gedränge kommt, pvi_1174.004
indem er ihr die übergroßen Dimensionen nicht geben kann, und er übersieht pvi_1174.005
nur, daß er das an sich zwar könnte, da ja in der Malerei aller Maaßstab pvi_1174.006
relativ ist (§, 649, 2.), daß aber doch diese Freiheit nicht schrankenlos pvi_1174.007
benützt werden kann, weil im vorliegenden Falle durch die räumliche Fixirung pvi_1174.008
so ungleicher Größenverhältnisse die Helden zu klein erschienen. Hier pvi_1174.009
zeigt sich also, daß doch erst die Poesie auch in der Darstellung jeder Größe pvi_1174.010
ganz frei sich bewegt. Aber noch mehr: die Größe des Götter- und Geisterleibes pvi_1174.011
wächst für die Phantasie zu einer unendlichen an, dem äußern pvi_1174.012
Auge ist sie begrenzt, richtiger: dem deutlich sehenden äußern Auge. Solches pvi_1174.013
unbestimmtes Sehen kann nun der Maler schwer ausdrücken, denn so dämmernd pvi_1174.014
und in Helldunkel verschwimmend er sein Object geben will, es hat doch zu pvi_1174.015
viel Bestimmtheit, um den Abgrund von Staunen zu öffnen, den nur die pvi_1174.016
Phantasie ohne die äußern Sinne kennt. Endlich genießt der Dichter noch pvi_1174.017
einen besondern Vortheil, der in der Anm. zu §. 837 schon berührt wurde, pvi_1174.018
wo von dem Charakter der Unendlichkeit die Rede war, der dem innern pvi_1174.019
Bild eigen ist: er kann Handlungen so schildern, daß wir wissen, sie geschehen pvi_1174.020
jetzt, daß sie uns aber zugleich verhüllt sind, im Dunkel vor sich pvi_1174.021
gehen, oder so, daß Personen im Gedichte selbst darum wissen, sie aus pvi_1174.022
andeutenden Zeichen errathen, sie sich vorstellen, aber ohne sie zu sehen. pvi_1174.023
Hier ergeben sich denn dieselben ungeheuern Wirkungen, wie durch das pvi_1174.024
halbdeutlich gesehene Wunderbare. Welche Hölle gräßlicher Entscheidung pvi_1174.025
liegt in den Worten der Lady Makbeth: jetzt ist er d'ran! Der Maler pvi_1174.026
mag wohl einen Lord Leicester darstellen, wie er verdammt ist, Moment pvi_1174.027
für Moment den Hinrichtungs-Act der Maria Stuart sich zu vergegenwärtigen, pvi_1174.028
man mag ihm den furchtbaren Vorgang in seinem Jnnern ansehen, pvi_1174.029
aber wie ganz anders wirkt die Scene, wenn der Dichter durch seine Mittel pvi_1174.030
uns zwingt, mit Leicester aus den dumpfen Lauten, die er vernimmt, uns pvi_1174.031
das Bild des Gräßlichen zu erzeugen, das ungesehen von unserem physischen, pvi_1174.032
wohl gesehen von unserem geistigen Auge vor sich geht! – Das sind denn pvi_1174.033
lauter Vortheile, die Lessing wohl berechtigten, (Laok. Abschn. 14) zu sagen: pvi_1174.034
müßte, so lange ich das leibliche Auge hätte, die Sphäre desselben auch die pvi_1174.035
Sphäre meines innern Auges sein, so würde ich, um von dieser Einschränkung pvi_1174.036
frei zu werden, einen großen Werth auf den Verlust des erstern legen.
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Schließlich ist nicht zu übersehen, daß der Dichter auch jene stoffartigeren pvi_1174.038
Sinne, die auf unmittelbarer Berührung, chemischer Auflösung der pvi_1174.039
Körper beruhen, in Wirkung setzen kann und darf, da er ja an die ganze pvi_1174.040
innerlich gesetzte Sinnlichkeit sich wendet. Diese Sinne liegen allerdings pvi_1174.041
schon dem Charakter des Gehöres näher, zu dem wir erst übergehen; ihre
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