Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.pvi_1173.001 Wir fassen hier bereits auch den Umfang des Darstellbaren in's pvi_1173.002 pvi_1173.001 Wir fassen hier bereits auch den Umfang des Darstellbaren in's pvi_1173.002 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0035" n="1173"/> <lb n="pvi_1173.001"/> <p> <hi rendition="#et"> Wir fassen hier bereits auch den <hi rendition="#g">Umfang</hi> des Darstellbaren in's <lb n="pvi_1173.002"/> Auge, ohne jedoch diejenige Seite der Erweiterung noch zu berücksichtigen, <lb n="pvi_1173.003"/> welche sich aus der Vereinigung mit der Grundform der Musik ergibt, <lb n="pvi_1173.004"/> obwohl darauf bereits hier Rücksicht zu nehmen ist, daß die Gebilde des <lb n="pvi_1173.005"/> Dichters Bewegung haben, die des bildenden Künstlers nicht. Der Dichter <lb n="pvi_1173.006"/> umfaßt denn nicht nur dieselben Stoffe wie dieser, sondern auch in unbeschränkter <lb n="pvi_1173.007"/> Ausdehnung. Das ganze Gebiet des Sichtbaren ist ihm aufgeschlossen, <lb n="pvi_1173.008"/> auch die Grenzen, welche der Malerei noch gesteckt sind (vergl. <lb n="pvi_1173.009"/> §. 678 ff., abgesehen von der Beziehung auf das Häßliche, welche hier <lb n="pvi_1173.010"/> noch nicht aufzunehmen ist). Was naturschön ist, aber nicht nachgeahmt <lb n="pvi_1173.011"/> werden kann, weil es zu momentan, zu unmittelbar, zu außergewöhnlich, <lb n="pvi_1173.012"/> zu unerreichbar blendend erscheint: er kann es uns vorzaubern und er darf <lb n="pvi_1173.013"/> es, denn er wetteifert ja nicht in wirklicher Farbe mit der Jntensität der <lb n="pvi_1173.014"/> Naturfarben, er gibt dem Momentanen und ganz Unmittelbaren (wie <lb n="pvi_1173.015"/> Baumblüthen und erstes Frühlingsgrün), dem Außergewöhnlichen, Einzigen <lb n="pvi_1173.016"/> eine ausgesprochene Beziehung auf inneres Leben, die ihm ewige Bedeutung <lb n="pvi_1173.017"/> sichert, er „läßt den Sturm zu Leidenschaften wüthen, das Abendroth in <lb n="pvi_1173.018"/> ernstem Sinne glüh'n.“ Auch das Kleinste ist ihm nicht undarstellbar, er <lb n="pvi_1173.019"/> mag Jnsektenschwärme durch die Luft spielen lassen, mit denen sich der <lb n="pvi_1173.020"/> Pinsel des Malers nicht befassen kann, u. dgl. Es ist namentlich nicht zu <lb n="pvi_1173.021"/> übersehen, daß er selbst Solches, was an sich dem äußern Auge sichtbar, <lb n="pvi_1173.022"/> aber verdeckt ist, dem innern vorführen, daß er uns z. B. den dunkeln <lb n="pvi_1173.023"/> Meeresgrund mit seinen Ungeheuern schildern kann. Jn der Poesie ist auch <lb n="pvi_1173.024"/> das Dichte zugleich <hi rendition="#g">durchsichtig.</hi> Dieß ist von den umfassendsten Folgen <lb n="pvi_1173.025"/> für die Weite und Fülle des Feldes, das der Dichter vor uns ausbreitet: <lb n="pvi_1173.026"/> <hi rendition="#g">seine Bilder decken sich nicht</hi> (Lessing Laok. Abschn. 5). Er hat kein <lb n="pvi_1173.027"/> beengendes Gedräng im Raume zu scheuen, er mag ihn füllen, wie es ihm <lb n="pvi_1173.028"/> aus inneren Gründen gut dünkt. Es liegt aber in dieser Richtung noch <lb n="pvi_1173.029"/> ein weiterer ungemeiner Vortheil. Durch ihre Beziehung zum Volksglauben <lb n="pvi_1173.030"/> fließt der Kunst eine Gattung von Gesichts-Erscheinungen zu, welche <lb n="pvi_1173.031"/> sichtbar unsichtbar genannt werden können und von der gewaltigsten Wirkung <lb n="pvi_1173.032"/> sind: Götter- und Geister-Erscheinungen. Diese Wesen sollen bald nur von <lb n="pvi_1173.033"/> denjenigen innerlich gesehen werden, an die sich der Künstler wendet, bald <lb n="pvi_1173.034"/> äußerlich von einigen der Personen, die er im Kunstwerke vorführt, von andern <lb n="pvi_1173.035"/> nicht (wie Banquo's Geist im Makbeth und des Königs im Hamlet), bald <lb n="pvi_1173.036"/> von allen, immer aber nur so, daß es ein unbestimmtes Sehen, Sehen einer <lb n="pvi_1173.037"/> Gestalt von verschwebenden Umrissen ist. Ueberall ist hier der Maler in <lb n="pvi_1173.038"/> einer übeln Lage: im ersten und zweiten Falle geräth er in den Widerspruch, <lb n="pvi_1173.039"/> eine Erscheinung schlechthin sichtbar zu machen und doch anzeigen zu <lb n="pvi_1173.040"/> sollen, daß sie von Niemand oder nicht von Allen gesehen wird. Lessing <lb n="pvi_1173.041"/> zeigt (Laokoon Abschn. 12), wie derselbe aus den Grenzen seiner Kunst </hi> </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1173/0035]
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Wir fassen hier bereits auch den Umfang des Darstellbaren in's pvi_1173.002
Auge, ohne jedoch diejenige Seite der Erweiterung noch zu berücksichtigen, pvi_1173.003
welche sich aus der Vereinigung mit der Grundform der Musik ergibt, pvi_1173.004
obwohl darauf bereits hier Rücksicht zu nehmen ist, daß die Gebilde des pvi_1173.005
Dichters Bewegung haben, die des bildenden Künstlers nicht. Der Dichter pvi_1173.006
umfaßt denn nicht nur dieselben Stoffe wie dieser, sondern auch in unbeschränkter pvi_1173.007
Ausdehnung. Das ganze Gebiet des Sichtbaren ist ihm aufgeschlossen, pvi_1173.008
auch die Grenzen, welche der Malerei noch gesteckt sind (vergl. pvi_1173.009
§. 678 ff., abgesehen von der Beziehung auf das Häßliche, welche hier pvi_1173.010
noch nicht aufzunehmen ist). Was naturschön ist, aber nicht nachgeahmt pvi_1173.011
werden kann, weil es zu momentan, zu unmittelbar, zu außergewöhnlich, pvi_1173.012
zu unerreichbar blendend erscheint: er kann es uns vorzaubern und er darf pvi_1173.013
es, denn er wetteifert ja nicht in wirklicher Farbe mit der Jntensität der pvi_1173.014
Naturfarben, er gibt dem Momentanen und ganz Unmittelbaren (wie pvi_1173.015
Baumblüthen und erstes Frühlingsgrün), dem Außergewöhnlichen, Einzigen pvi_1173.016
eine ausgesprochene Beziehung auf inneres Leben, die ihm ewige Bedeutung pvi_1173.017
sichert, er „läßt den Sturm zu Leidenschaften wüthen, das Abendroth in pvi_1173.018
ernstem Sinne glüh'n.“ Auch das Kleinste ist ihm nicht undarstellbar, er pvi_1173.019
mag Jnsektenschwärme durch die Luft spielen lassen, mit denen sich der pvi_1173.020
Pinsel des Malers nicht befassen kann, u. dgl. Es ist namentlich nicht zu pvi_1173.021
übersehen, daß er selbst Solches, was an sich dem äußern Auge sichtbar, pvi_1173.022
aber verdeckt ist, dem innern vorführen, daß er uns z. B. den dunkeln pvi_1173.023
Meeresgrund mit seinen Ungeheuern schildern kann. Jn der Poesie ist auch pvi_1173.024
das Dichte zugleich durchsichtig. Dieß ist von den umfassendsten Folgen pvi_1173.025
für die Weite und Fülle des Feldes, das der Dichter vor uns ausbreitet: pvi_1173.026
seine Bilder decken sich nicht (Lessing Laok. Abschn. 5). Er hat kein pvi_1173.027
beengendes Gedräng im Raume zu scheuen, er mag ihn füllen, wie es ihm pvi_1173.028
aus inneren Gründen gut dünkt. Es liegt aber in dieser Richtung noch pvi_1173.029
ein weiterer ungemeiner Vortheil. Durch ihre Beziehung zum Volksglauben pvi_1173.030
fließt der Kunst eine Gattung von Gesichts-Erscheinungen zu, welche pvi_1173.031
sichtbar unsichtbar genannt werden können und von der gewaltigsten Wirkung pvi_1173.032
sind: Götter- und Geister-Erscheinungen. Diese Wesen sollen bald nur von pvi_1173.033
denjenigen innerlich gesehen werden, an die sich der Künstler wendet, bald pvi_1173.034
äußerlich von einigen der Personen, die er im Kunstwerke vorführt, von andern pvi_1173.035
nicht (wie Banquo's Geist im Makbeth und des Königs im Hamlet), bald pvi_1173.036
von allen, immer aber nur so, daß es ein unbestimmtes Sehen, Sehen einer pvi_1173.037
Gestalt von verschwebenden Umrissen ist. Ueberall ist hier der Maler in pvi_1173.038
einer übeln Lage: im ersten und zweiten Falle geräth er in den Widerspruch, pvi_1173.039
eine Erscheinung schlechthin sichtbar zu machen und doch anzeigen zu pvi_1173.040
sollen, daß sie von Niemand oder nicht von Allen gesehen wird. Lessing pvi_1173.041
zeigt (Laokoon Abschn. 12), wie derselbe aus den Grenzen seiner Kunst
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