Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
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pvi_1192.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0054" n="1192"/><lb n="pvi_1192.001"/> so hätte sie charakteristisch, individualisirend werden müssen, die Poesie dagegen <lb n="pvi_1192.002"/> entfaltete ihre sämmtlichen Mittel und konnte doch plastisch schön <lb n="pvi_1192.003"/> bleiben, so daß ein Thersites einsam im Saale der Homerischen Statuen <lb n="pvi_1192.004"/> wandelt. Es scheint auffallend, daß eine Kunst, in welcher das Salz <lb n="pvi_1192.005"/> der Negativität im Verhältnisse zwischen Ausdruck und Form noch um <lb n="pvi_1192.006"/> so viel stärker ist, als in der Malerei, daß die Poesie doch in den <lb n="pvi_1192.007"/> Grenzen einer prinzipiellen Auffassung, welcher diese Negativität fremd ist, <lb n="pvi_1192.008"/> auf dem Boden einer einfach ruhigen Harmonie zwischen Ausdruck und <lb n="pvi_1192.009"/> Form eine so viel unzweifelhaftere, den spezifischen Bedingungen des bestimmten <lb n="pvi_1192.010"/> Kunstgebiets entsprechende ebenbürtige Welt der Schönheit schaffen kann. <lb n="pvi_1192.011"/> Es erklärt sich aber diese Erscheinung einmal daraus, daß in der Poesie <lb n="pvi_1192.012"/> die Farbe kein so wesentliches Moment ist, wie in der Malerei, daß jene <lb n="pvi_1192.013"/> vielmehr leichter, als diese, dem Formgefühle wieder ein gewisses Uebergewicht <lb n="pvi_1192.014"/> über das Farbgefühl geben kann. Die Farbe in ihrer Ausbildung <lb n="pvi_1192.015"/> zu einer gesättigten Welt unendlicher Uebergänge, Durchkreuzungen von <lb n="pvi_1192.016"/> Licht und Dunkel ist es vorzüglich, was den Accent auf eine Art des Ausdrucks <lb n="pvi_1192.017"/> wirft, die einen gewissen Bruch zwischen dem Jnnern und Aeußern <lb n="pvi_1192.018"/> voraussetzt, was die Kräfte, Eigenschaften, Beziehungen jedes Wesens zur <lb n="pvi_1192.019"/> Außenwelt so reich spezialisirt, daß die einfachere Grundlinie der Schönheit, <lb n="pvi_1192.020"/> welche auf naturvolle Harmonie des Gemüthslebens weist, in dieser Kunst <lb n="pvi_1192.021"/> zu matt, zu uninteressant erscheint. Die Gebilde, welche die Dichtung vor <lb n="pvi_1192.022"/> unsere Phantasie führt, haben nun allerdings auch Farbe, über Homer's <lb n="pvi_1192.023"/> Welt wölbt sich der tiefblaue Himmel des Südens und glänzt alles Leben <lb n="pvi_1192.024"/> im glühenden Sonnenlichte. Allein wenn alle Züge der Erscheinung, wie <lb n="pvi_1192.025"/> sie nur der innerlichen Sinnlichkeit vorschwebt, unbestimmter werden, so gilt <lb n="pvi_1192.026"/> dieß doch mehr von der Farbe, als vom Umriß; dieser zeichnet sich deutlicher <lb n="pvi_1192.027"/> und schärfer vor das Auge der Einbildungskraft, weil er <hi rendition="#g">Linie</hi> ist. Es <lb n="pvi_1192.028"/> ist doch ungleich mehr Umriß= als Farben-Freude, was wir bei Homer's <lb n="pvi_1192.029"/> Gebilden als Objecten des inneren Sehens genießen. Die Poesie bleibt <lb n="pvi_1192.030"/> daher weniger, als die Malerei, hinter den Bedingungen ihrer spezifischen <lb n="pvi_1192.031"/> Kunstform zurück, wenn sie die Zeichnung über die Farbe herrschen läßt; <lb n="pvi_1192.032"/> die Zeichnung führt aber als das plastische Element mehr dem Prinzip der <lb n="pvi_1192.033"/> directen Jdealisirung zu. Dieß ist aber noch nicht die ganze Begründung; <lb n="pvi_1192.034"/> zunächst ist das Element Bewegung noch in Betracht zu ziehen. Dieselbe <lb n="pvi_1192.035"/> geht in der Dichtkunst, wiewohl nur innerlich geschaut, doch wirklich vor <lb n="pvi_1192.036"/> sich, wie in keiner bildenden Kunst. Sie hat ihr eigenes Reich der Schönheit <lb n="pvi_1192.037"/> in der Welle der Anmuth; ihm steht eine andere Welt von Bewegungen <lb n="pvi_1192.038"/> gegenüber, welche wir gebrochene nennen können und welche auf ein inneres <lb n="pvi_1192.039"/> Leben hinweisen, das aus der Einfalt ursprünglicher Harmonie des Seelenlebens <lb n="pvi_1192.040"/> herausgetreten ist. Der Dichter, der sich des Vortheils erfreut, daß <lb n="pvi_1192.041"/> ihm wirklich bewegte Gestalten zu Gebote stehen, wird nun mit demselben </hi> </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1192/0054]
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so hätte sie charakteristisch, individualisirend werden müssen, die Poesie dagegen pvi_1192.002
entfaltete ihre sämmtlichen Mittel und konnte doch plastisch schön pvi_1192.003
bleiben, so daß ein Thersites einsam im Saale der Homerischen Statuen pvi_1192.004
wandelt. Es scheint auffallend, daß eine Kunst, in welcher das Salz pvi_1192.005
der Negativität im Verhältnisse zwischen Ausdruck und Form noch um pvi_1192.006
so viel stärker ist, als in der Malerei, daß die Poesie doch in den pvi_1192.007
Grenzen einer prinzipiellen Auffassung, welcher diese Negativität fremd ist, pvi_1192.008
auf dem Boden einer einfach ruhigen Harmonie zwischen Ausdruck und pvi_1192.009
Form eine so viel unzweifelhaftere, den spezifischen Bedingungen des bestimmten pvi_1192.010
Kunstgebiets entsprechende ebenbürtige Welt der Schönheit schaffen kann. pvi_1192.011
Es erklärt sich aber diese Erscheinung einmal daraus, daß in der Poesie pvi_1192.012
die Farbe kein so wesentliches Moment ist, wie in der Malerei, daß jene pvi_1192.013
vielmehr leichter, als diese, dem Formgefühle wieder ein gewisses Uebergewicht pvi_1192.014
über das Farbgefühl geben kann. Die Farbe in ihrer Ausbildung pvi_1192.015
zu einer gesättigten Welt unendlicher Uebergänge, Durchkreuzungen von pvi_1192.016
Licht und Dunkel ist es vorzüglich, was den Accent auf eine Art des Ausdrucks pvi_1192.017
wirft, die einen gewissen Bruch zwischen dem Jnnern und Aeußern pvi_1192.018
voraussetzt, was die Kräfte, Eigenschaften, Beziehungen jedes Wesens zur pvi_1192.019
Außenwelt so reich spezialisirt, daß die einfachere Grundlinie der Schönheit, pvi_1192.020
welche auf naturvolle Harmonie des Gemüthslebens weist, in dieser Kunst pvi_1192.021
zu matt, zu uninteressant erscheint. Die Gebilde, welche die Dichtung vor pvi_1192.022
unsere Phantasie führt, haben nun allerdings auch Farbe, über Homer's pvi_1192.023
Welt wölbt sich der tiefblaue Himmel des Südens und glänzt alles Leben pvi_1192.024
im glühenden Sonnenlichte. Allein wenn alle Züge der Erscheinung, wie pvi_1192.025
sie nur der innerlichen Sinnlichkeit vorschwebt, unbestimmter werden, so gilt pvi_1192.026
dieß doch mehr von der Farbe, als vom Umriß; dieser zeichnet sich deutlicher pvi_1192.027
und schärfer vor das Auge der Einbildungskraft, weil er Linie ist. Es pvi_1192.028
ist doch ungleich mehr Umriß= als Farben-Freude, was wir bei Homer's pvi_1192.029
Gebilden als Objecten des inneren Sehens genießen. Die Poesie bleibt pvi_1192.030
daher weniger, als die Malerei, hinter den Bedingungen ihrer spezifischen pvi_1192.031
Kunstform zurück, wenn sie die Zeichnung über die Farbe herrschen läßt; pvi_1192.032
die Zeichnung führt aber als das plastische Element mehr dem Prinzip der pvi_1192.033
directen Jdealisirung zu. Dieß ist aber noch nicht die ganze Begründung; pvi_1192.034
zunächst ist das Element Bewegung noch in Betracht zu ziehen. Dieselbe pvi_1192.035
geht in der Dichtkunst, wiewohl nur innerlich geschaut, doch wirklich vor pvi_1192.036
sich, wie in keiner bildenden Kunst. Sie hat ihr eigenes Reich der Schönheit pvi_1192.037
in der Welle der Anmuth; ihm steht eine andere Welt von Bewegungen pvi_1192.038
gegenüber, welche wir gebrochene nennen können und welche auf ein inneres pvi_1192.039
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herausgetreten ist. Der Dichter, der sich des Vortheils erfreut, daß pvi_1192.041
ihm wirklich bewegte Gestalten zu Gebote stehen, wird nun mit demselben
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