Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
pvi_1198.001 Die andere Art des Uebergriffs in die Musik liegt auf der formellen pvi_1198.039
pvi_1198.001 Die andere Art des Uebergriffs in die Musik liegt auf der formellen pvi_1198.039 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0060" n="1198"/><lb n="pvi_1198.001"/> durch den Kampf gegen die geistlose Regel eines conventionell gewordenen <lb n="pvi_1198.002"/> Styls sich erzeugen. So brach in der neueren deutschen Poesie der erwachte <lb n="pvi_1198.003"/> Genius im Sturme gegen Gotsched und die Franzosen zuerst als hoch <lb n="pvi_1198.004"/> angeschwelltes, überschwengliches Gefühl hervor; diese Stimmung brütet <lb n="pvi_1198.005"/> wie eine heiße, zitternde Luft, in die sich alle Bestimmtheit der Umrisse <lb n="pvi_1198.006"/> auflöst, über den ersten Poesieen der jugendlich drängenden Geister. Klopstock's <lb n="pvi_1198.007"/> Messias wurde, wie es Gervinus treffend bezeichnet hat, mehr ein <lb n="pvi_1198.008"/> Oratorium, als ein Epos, Herder's und Göthe's Styl war ein Sprudeln <lb n="pvi_1198.009"/> des übervollen Herzens, das sich athemlos in Ausrufungen und Gedankenstrichen <lb n="pvi_1198.010"/> bewegt und die Herrlichkeit der neu aufgegangenen inneren Welt <lb n="pvi_1198.011"/> zu verletzen fürchtet, wenn es zur Ruhe objectiver Gestaltung übergienge. <lb n="pvi_1198.012"/> Das hatte freilich seinen tieferen und allgemeineren Grund in dem Charakter <lb n="pvi_1198.013"/> einer geistigen Revolution, welche, ergänzend, was die Reformation begonnen, <lb n="pvi_1198.014"/> dem Subjecte zuerst das Bewußtsein seiner freien Unendlichkeit gab, ohne <lb n="pvi_1198.015"/> ihm noch den Weg zu zeigen, wie sich dieselbe mit der Erfahrung, mit der <lb n="pvi_1198.016"/> Schranke des Endlichen zu vermitteln habe; wie daher die politische Revolution <lb n="pvi_1198.017"/> nicht zu bauen vermochte, so die geistige nicht, ein klares Weltbild <lb n="pvi_1198.018"/> zu geben. Vergl. hiezu §. 477. Ohne die Kraft und Frische, die sie in <lb n="pvi_1198.019"/> jener ersten Zeit der ächten Sentimentalität hatte, blieb die Subjectivität <lb n="pvi_1198.020"/> ein Grundzug der modernen Zeit, der sich auf Kosten der Gestaltung in <lb n="pvi_1198.021"/> die Poesie legte. Es äußert sich dieß nicht nur darin, daß das Lyrische im <lb n="pvi_1198.022"/> Epischen und Dramatischen überwuchert, die festen Grenzen der Zweige <lb n="pvi_1198.023"/> löst und Zwitterformen hervorbringt, sondern auch im Lyrischen selbst, denn <lb n="pvi_1198.024"/> wie sehr dieser Zweig der Musik verwandt sein mag, so verlangt er doch <lb n="pvi_1198.025"/> seine Bestimmtheit, Deutlichkeit, seine Art von Objectivität. Ein Beispiel <lb n="pvi_1198.026"/> des musikalisch Nebelhaften sind namentlich die lyrischen Dichtungen Tieck's: <lb n="pvi_1198.027"/> sie wirken, als hätte man zu starken Thee getrunken und befände sich in <lb n="pvi_1198.028"/> einer Ueberspannung aller Nerven, die der Seele eine unendliche Hebung <lb n="pvi_1198.029"/> ihrer Kräfte vorspiegelt, ein inneres Sausen, Summen und Weben, wobei <lb n="pvi_1198.030"/> schlechterdings nichts zu denken ist und das etwa einem verworrenen Phantasiren <lb n="pvi_1198.031"/> auf dem Clavier gleicht. – Musikalisch subjectiv ist auch die unendliche <lb n="pvi_1198.032"/> Masse von lyrischen Erzeugnissen jenes Dilettantismus zu nennen, <lb n="pvi_1198.033"/> dem die Leichtigkeit, in einer längst zugerichteten Dichtersprache Verse zu <lb n="pvi_1198.034"/> machen, den Mangel des Talents, der Originalität verhüllt: allgemeine <lb n="pvi_1198.035"/> Empfindungen, wie sie in jedem menschlichen Leben wiederkehren, ausgedrückt <lb n="pvi_1198.036"/> in verbrauchtem Apparate, gelten für Poesie, weil sie eben Empfindungen <lb n="pvi_1198.037"/> sind.</hi> </p> <lb n="pvi_1198.038"/> <p> <hi rendition="#et"> Die andere Art des Uebergriffs in die Musik liegt auf der formellen <lb n="pvi_1198.039"/> Seite: das Vehikel, der Rhythmus, die Sprachform, wird zum Zwecke. <lb n="pvi_1198.040"/> Die Versuchung hiezu entspringt daraus, daß das Vehikel allerdings, obwohl <lb n="pvi_1198.041"/> es nicht Material ist (vergl. §. 839, 3.), von der Jdealität der Stimmung </hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1198/0060]
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durch den Kampf gegen die geistlose Regel eines conventionell gewordenen pvi_1198.002
Styls sich erzeugen. So brach in der neueren deutschen Poesie der erwachte pvi_1198.003
Genius im Sturme gegen Gotsched und die Franzosen zuerst als hoch pvi_1198.004
angeschwelltes, überschwengliches Gefühl hervor; diese Stimmung brütet pvi_1198.005
wie eine heiße, zitternde Luft, in die sich alle Bestimmtheit der Umrisse pvi_1198.006
auflöst, über den ersten Poesieen der jugendlich drängenden Geister. Klopstock's pvi_1198.007
Messias wurde, wie es Gervinus treffend bezeichnet hat, mehr ein pvi_1198.008
Oratorium, als ein Epos, Herder's und Göthe's Styl war ein Sprudeln pvi_1198.009
des übervollen Herzens, das sich athemlos in Ausrufungen und Gedankenstrichen pvi_1198.010
bewegt und die Herrlichkeit der neu aufgegangenen inneren Welt pvi_1198.011
zu verletzen fürchtet, wenn es zur Ruhe objectiver Gestaltung übergienge. pvi_1198.012
Das hatte freilich seinen tieferen und allgemeineren Grund in dem Charakter pvi_1198.013
einer geistigen Revolution, welche, ergänzend, was die Reformation begonnen, pvi_1198.014
dem Subjecte zuerst das Bewußtsein seiner freien Unendlichkeit gab, ohne pvi_1198.015
ihm noch den Weg zu zeigen, wie sich dieselbe mit der Erfahrung, mit der pvi_1198.016
Schranke des Endlichen zu vermitteln habe; wie daher die politische Revolution pvi_1198.017
nicht zu bauen vermochte, so die geistige nicht, ein klares Weltbild pvi_1198.018
zu geben. Vergl. hiezu §. 477. Ohne die Kraft und Frische, die sie in pvi_1198.019
jener ersten Zeit der ächten Sentimentalität hatte, blieb die Subjectivität pvi_1198.020
ein Grundzug der modernen Zeit, der sich auf Kosten der Gestaltung in pvi_1198.021
die Poesie legte. Es äußert sich dieß nicht nur darin, daß das Lyrische im pvi_1198.022
Epischen und Dramatischen überwuchert, die festen Grenzen der Zweige pvi_1198.023
löst und Zwitterformen hervorbringt, sondern auch im Lyrischen selbst, denn pvi_1198.024
wie sehr dieser Zweig der Musik verwandt sein mag, so verlangt er doch pvi_1198.025
seine Bestimmtheit, Deutlichkeit, seine Art von Objectivität. Ein Beispiel pvi_1198.026
des musikalisch Nebelhaften sind namentlich die lyrischen Dichtungen Tieck's: pvi_1198.027
sie wirken, als hätte man zu starken Thee getrunken und befände sich in pvi_1198.028
einer Ueberspannung aller Nerven, die der Seele eine unendliche Hebung pvi_1198.029
ihrer Kräfte vorspiegelt, ein inneres Sausen, Summen und Weben, wobei pvi_1198.030
schlechterdings nichts zu denken ist und das etwa einem verworrenen Phantasiren pvi_1198.031
auf dem Clavier gleicht. – Musikalisch subjectiv ist auch die unendliche pvi_1198.032
Masse von lyrischen Erzeugnissen jenes Dilettantismus zu nennen, pvi_1198.033
dem die Leichtigkeit, in einer längst zugerichteten Dichtersprache Verse zu pvi_1198.034
machen, den Mangel des Talents, der Originalität verhüllt: allgemeine pvi_1198.035
Empfindungen, wie sie in jedem menschlichen Leben wiederkehren, ausgedrückt pvi_1198.036
in verbrauchtem Apparate, gelten für Poesie, weil sie eben Empfindungen pvi_1198.037
sind.
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Die andere Art des Uebergriffs in die Musik liegt auf der formellen pvi_1198.039
Seite: das Vehikel, der Rhythmus, die Sprachform, wird zum Zwecke. pvi_1198.040
Die Versuchung hiezu entspringt daraus, daß das Vehikel allerdings, obwohl pvi_1198.041
es nicht Material ist (vergl. §. 839, 3.), von der Jdealität der Stimmung
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