pvi_1199.001 ergriffen und umgebildet werden soll. Aus der zuerst noch gestaltlosen Fülle pvi_1199.002 der wahren poetischen Stimmung keimt aber vor Allem die innere Gestalt, der pvi_1199.003 Körper einer gehaltvollen Anschauung, das rhythmische Gewand wächst mit pvi_1199.004 ihm und umschließt ihn in würdigen Falten; es ist nicht der ächte Prozeß, pvi_1199.005 wenn die Wärme unmittelbar in die Technik der Sprachform ausweicht; pvi_1199.006 die Draperie, auf welche die erste Aufmerksamkeit gerichtet wurde, wird eine pvi_1199.007 verschwommene Bildung umkleiden. Dieser Weg läßt vielmehr auf Mangel pvi_1199.008 an wahrer Wärme, das entschiedene Uebergewicht der formellen Virtuosität pvi_1199.009 auf innere Kälte schließen. Es scheint hier das gerade Gegentheil jenes pvi_1199.010 andern Uebergriffs vorzuliegen, der im Ueberschwang der Empfindung seinen pvi_1199.011 Grund hat; es verhält sich auch zunächst so, allein das überhitzte Gefühl, pvi_1199.012 das sich sträubt, in die feste Gestaltung überzugehen, kann auch Manier pvi_1199.013 werden, erkaltet zur Routine und schlägt sich in den Eisblumen der Verskunst pvi_1199.014 nieder. Die romantische Schule ist auch für diese "kalte Gluth und pvi_1199.015 lichten Rauch" ein belehrendes Beispiel. Es ist aber noch eine andere, pvi_1199.016 schwieriger zu fassende Erscheinung zu nennen, die der §. durch den Zusatz: pvi_1199.017 Ausgangspunct bezeichnet; es gibt Dichter, welche im Ganzen mehr Virtuosen pvi_1199.018 der formellen Technik, als wahre Schöpfer eines poetischen Jnhalts pvi_1199.019 sind, denen aber in manchen Momenten am Klange der formellen Schönheit pvi_1199.020 das gehaltvollere Gefühl, das innig geschaute Bild anschießt; sie pvi_1199.021 arbeiten von außen nach innen, statt von innen nach außen, aber in glücklichen pvi_1199.022 Stunden führt sie ihr umgekehrter Gang auch zum Ziele. Solche pvi_1199.023 Naturen werden ihren, zwar fragmentarischen, höheren Beruf allerdings pvi_1199.024 schon in der technischen Form, auch wo die Pygmalions-Statue nicht erwarmt, pvi_1199.025 durch eine besondere Feinheit, ein plastisches Gefühl an den Tag legen, so pvi_1199.026 daß man versucht ist, die Genugthuung, die der Rhythmus des Verses an pvi_1199.027 sich allein gewährt, für ganze ästhetische Freude zu nehmen. Platen ist eine pvi_1199.028 solche Natur, zum Theil auch Rückert. - Man sieht, in wie mannigfachen pvi_1199.029 Verschiebungen die Wirklichkeit auseinanderlegt, was in der Jdee der wahren pvi_1199.030 Dichtung ein Volles, Ganzes, Eines ist.
pvi_1199.031
§. 847.
pvi_1199.032
Noch näher liegt der Poesie die entgegengesetzte Verirrung auf den Boden pvi_1199.033 der bildenden Kunst. Sie besteht darin, daß das Sichtbare durch Aufzählen pvi_1199.034 der einzelnen Züge so geschildert wird, als verweilte der Zuhörer mit dem pvi_1199.035 äußern Auge vor einem in das wirkliche Nebeneinander des Raums gestellten pvi_1199.036 Bilde. Dadurch geräth die Langsamkeit, womit die Rede vorrückt, und der pvi_1199.037 Zwang, den sie ausübt, mit der Schnelligkeit und Freiheit der von ihr angeregten pvi_1199.038 Phantasie, die mit Einem Blick ein Ganzes schaut, in Widerspruch. pvi_1199.039 Der Dichter hat vielmehr das Sichtbare mit wenigen Zügen so zu vergegenwärtigen,
pvi_1199.001 ergriffen und umgebildet werden soll. Aus der zuerst noch gestaltlosen Fülle pvi_1199.002 der wahren poetischen Stimmung keimt aber vor Allem die innere Gestalt, der pvi_1199.003 Körper einer gehaltvollen Anschauung, das rhythmische Gewand wächst mit pvi_1199.004 ihm und umschließt ihn in würdigen Falten; es ist nicht der ächte Prozeß, pvi_1199.005 wenn die Wärme unmittelbar in die Technik der Sprachform ausweicht; pvi_1199.006 die Draperie, auf welche die erste Aufmerksamkeit gerichtet wurde, wird eine pvi_1199.007 verschwommene Bildung umkleiden. Dieser Weg läßt vielmehr auf Mangel pvi_1199.008 an wahrer Wärme, das entschiedene Uebergewicht der formellen Virtuosität pvi_1199.009 auf innere Kälte schließen. Es scheint hier das gerade Gegentheil jenes pvi_1199.010 andern Uebergriffs vorzuliegen, der im Ueberschwang der Empfindung seinen pvi_1199.011 Grund hat; es verhält sich auch zunächst so, allein das überhitzte Gefühl, pvi_1199.012 das sich sträubt, in die feste Gestaltung überzugehen, kann auch Manier pvi_1199.013 werden, erkaltet zur Routine und schlägt sich in den Eisblumen der Verskunst pvi_1199.014 nieder. Die romantische Schule ist auch für diese „kalte Gluth und pvi_1199.015 lichten Rauch“ ein belehrendes Beispiel. Es ist aber noch eine andere, pvi_1199.016 schwieriger zu fassende Erscheinung zu nennen, die der §. durch den Zusatz: pvi_1199.017 Ausgangspunct bezeichnet; es gibt Dichter, welche im Ganzen mehr Virtuosen pvi_1199.018 der formellen Technik, als wahre Schöpfer eines poetischen Jnhalts pvi_1199.019 sind, denen aber in manchen Momenten am Klange der formellen Schönheit pvi_1199.020 das gehaltvollere Gefühl, das innig geschaute Bild anschießt; sie pvi_1199.021 arbeiten von außen nach innen, statt von innen nach außen, aber in glücklichen pvi_1199.022 Stunden führt sie ihr umgekehrter Gang auch zum Ziele. Solche pvi_1199.023 Naturen werden ihren, zwar fragmentarischen, höheren Beruf allerdings pvi_1199.024 schon in der technischen Form, auch wo die Pygmalions-Statue nicht erwarmt, pvi_1199.025 durch eine besondere Feinheit, ein plastisches Gefühl an den Tag legen, so pvi_1199.026 daß man versucht ist, die Genugthuung, die der Rhythmus des Verses an pvi_1199.027 sich allein gewährt, für ganze ästhetische Freude zu nehmen. Platen ist eine pvi_1199.028 solche Natur, zum Theil auch Rückert. – Man sieht, in wie mannigfachen pvi_1199.029 Verschiebungen die Wirklichkeit auseinanderlegt, was in der Jdee der wahren pvi_1199.030 Dichtung ein Volles, Ganzes, Eines ist.
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§. 847.
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Noch näher liegt der Poesie die entgegengesetzte Verirrung auf den Boden pvi_1199.033 der bildenden Kunst. Sie besteht darin, daß das Sichtbare durch Aufzählen pvi_1199.034 der einzelnen Züge so geschildert wird, als verweilte der Zuhörer mit dem pvi_1199.035 äußern Auge vor einem in das wirkliche Nebeneinander des Raums gestellten pvi_1199.036 Bilde. Dadurch geräth die Langsamkeit, womit die Rede vorrückt, und der pvi_1199.037 Zwang, den sie ausübt, mit der Schnelligkeit und Freiheit der von ihr angeregten pvi_1199.038 Phantasie, die mit Einem Blick ein Ganzes schaut, in Widerspruch. pvi_1199.039 Der Dichter hat vielmehr das Sichtbare mit wenigen Zügen so zu vergegenwärtigen,
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Noch näher liegt der Poesie die entgegengesetzte Verirrung auf den Boden pvi_1199.033
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Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857, S. 1199. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_poetik_1857/61>, abgerufen am 16.07.2024.
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