Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
pvi_1212.001
pvi_1212.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0074" n="1212"/><lb n="pvi_1212.001"/> Classischen entnommen ist, wie er nicht nur dem Besten und Vollkommensten, <lb n="pvi_1212.002"/> sondern in engerer Bedeutung dem Style gegeben wird, der auf <lb n="pvi_1212.003"/> jenem Prinzip der directen Jdealisirung ruht, nach welchem die einzelne <lb n="pvi_1212.004"/> Gestalt schön sein soll. Auch in der Malerei nennt man die entsprechende <lb n="pvi_1212.005"/> Richtung die classische, die classicirende; man bemerke aber dabei wohl, daß <lb n="pvi_1212.006"/> dieser Styl hier seine Muster nicht eigentlich in den Werken der Alten auf <lb n="pvi_1212.007"/> demselben Kunstgebiete, vielmehr auf dem einer andern Kunst, der Sculptur, <lb n="pvi_1212.008"/> hat, wogegen die classisch fühlende, zeichnende, componirende Richtung in <lb n="pvi_1212.009"/> der Poesie ihre Vorbilder eben in den alten Meistern derselben Kunst findet <lb n="pvi_1212.010"/> und der verwandte Charakter der Bildnerkunst nur zur näheren Belehrung <lb n="pvi_1212.011"/> über ihr Wesen beizuziehen ist. Die Bezeichnung trifft daher noch weit <lb n="pvi_1212.012"/> enger zu, wenn man (unter den nöthigen Einschränkungen) die Dichtung <lb n="pvi_1212.013"/> der romanischen Völker, unter den Deutschen Göthe's und Schiller's im <lb n="pvi_1212.014"/> Gegensatze vorzüglich gegen Shakespeare, die classicirende nennt, als wenn <lb n="pvi_1212.015"/> man den älteren und jüngeren Akademikern der Malerei in Frankreich, den <lb n="pvi_1212.016"/> Carstens und Wächter in Deutschland diesen Namen gibt. Die durchschlagende <lb n="pvi_1212.017"/> Bezeichnung classisch und romantisch, wie sie nicht nur einen geschichtlich dagewesenen, <lb n="pvi_1212.018"/> sondern bleibenden Unterschied der Auffassung im Auge hat, ist <lb n="pvi_1212.019"/> im Gebiete der Poesie aufgekommen, der große Gegensatz der Style hier <lb n="pvi_1212.020"/> früher, ausdrücklicher, tiefer erkannt worden, als auf allen andern Kunstgebieten: <lb n="pvi_1212.021"/> natürlich, weil der geistigsten Kunst ein ausgesprochneres Bewußtsein <lb n="pvi_1212.022"/> ihrer Gesetze, eine ausgebildetere Kritik zur Seite geht. Seit dem <lb n="pvi_1212.023"/> Kampfe gegen Gotsched dreht sich Alles um diese Angel, Shakespeare ist <lb n="pvi_1212.024"/> der Name, in welchem man Alles zusammenfaßt, was man unter dem <lb n="pvi_1212.025"/> naturalistischen und individualisirenden Style begreift. Um was es sich <lb n="pvi_1212.026"/> eigentlich handelt, kann man sich auf empirischem Weg am besten veranschaulichen, <lb n="pvi_1212.027"/> wenn man deutlich das Schwanken zwischen zwei Stylen in <lb n="pvi_1212.028"/> Göthe's Egmont beobachtet, wenn man in Schiller's Wallenstein genau <lb n="pvi_1212.029"/> unterscheidet, wo unter dem Einflusse des großen Britten die gesättigte <lb n="pvi_1212.030"/> Farbe der vollen Lebenswahrheit und wo dagegen die generalisirende Allgemeinheit <lb n="pvi_1212.031"/> des Jdealismus durchdringt, wenn man die Aeußerung von Gervinus <lb n="pvi_1212.032"/> über Schiller's Charaktere: sie halten sich in einer Mitte zwischen <lb n="pvi_1212.033"/> der typischen Art der Alten und der individuellen des Shakespeare (Neuere <lb n="pvi_1212.034"/> Gesch. d. poet. Nat.=Lit. d. Deutsch. Th. 2. S. 506) wohl überlegt. Letztere <lb n="pvi_1212.035"/> ist zwar nicht ganz richtig; diese Mitte suchen wir erst, sie ist das Ziel unserer <lb n="pvi_1212.036"/> Poesie, aber das Wort gibt viel zu denken. – Der §. faßt in Kürze die <lb n="pvi_1212.037"/> schon in früheren Abschnitten mehrfach besprochenen Grundzüge beider Style <lb n="pvi_1212.038"/> noch einmal zusammen und hebt als neuen Zug nur die kühnere Mischung <lb n="pvi_1212.039"/> des Ernsten und Komischen hervor; jede weitere Auseinandersetzung an der <lb n="pvi_1212.040"/> gegenwärtigen Stelle wäre zweckwidrig, weil in der Folge der große Unterschied, <lb n="pvi_1212.041"/> von dem es sich handelt, auf allen Hauptpuncten hervortritt und </hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1212/0074]
pvi_1212.001
Classischen entnommen ist, wie er nicht nur dem Besten und Vollkommensten, pvi_1212.002
sondern in engerer Bedeutung dem Style gegeben wird, der auf pvi_1212.003
jenem Prinzip der directen Jdealisirung ruht, nach welchem die einzelne pvi_1212.004
Gestalt schön sein soll. Auch in der Malerei nennt man die entsprechende pvi_1212.005
Richtung die classische, die classicirende; man bemerke aber dabei wohl, daß pvi_1212.006
dieser Styl hier seine Muster nicht eigentlich in den Werken der Alten auf pvi_1212.007
demselben Kunstgebiete, vielmehr auf dem einer andern Kunst, der Sculptur, pvi_1212.008
hat, wogegen die classisch fühlende, zeichnende, componirende Richtung in pvi_1212.009
der Poesie ihre Vorbilder eben in den alten Meistern derselben Kunst findet pvi_1212.010
und der verwandte Charakter der Bildnerkunst nur zur näheren Belehrung pvi_1212.011
über ihr Wesen beizuziehen ist. Die Bezeichnung trifft daher noch weit pvi_1212.012
enger zu, wenn man (unter den nöthigen Einschränkungen) die Dichtung pvi_1212.013
der romanischen Völker, unter den Deutschen Göthe's und Schiller's im pvi_1212.014
Gegensatze vorzüglich gegen Shakespeare, die classicirende nennt, als wenn pvi_1212.015
man den älteren und jüngeren Akademikern der Malerei in Frankreich, den pvi_1212.016
Carstens und Wächter in Deutschland diesen Namen gibt. Die durchschlagende pvi_1212.017
Bezeichnung classisch und romantisch, wie sie nicht nur einen geschichtlich dagewesenen, pvi_1212.018
sondern bleibenden Unterschied der Auffassung im Auge hat, ist pvi_1212.019
im Gebiete der Poesie aufgekommen, der große Gegensatz der Style hier pvi_1212.020
früher, ausdrücklicher, tiefer erkannt worden, als auf allen andern Kunstgebieten: pvi_1212.021
natürlich, weil der geistigsten Kunst ein ausgesprochneres Bewußtsein pvi_1212.022
ihrer Gesetze, eine ausgebildetere Kritik zur Seite geht. Seit dem pvi_1212.023
Kampfe gegen Gotsched dreht sich Alles um diese Angel, Shakespeare ist pvi_1212.024
der Name, in welchem man Alles zusammenfaßt, was man unter dem pvi_1212.025
naturalistischen und individualisirenden Style begreift. Um was es sich pvi_1212.026
eigentlich handelt, kann man sich auf empirischem Weg am besten veranschaulichen, pvi_1212.027
wenn man deutlich das Schwanken zwischen zwei Stylen in pvi_1212.028
Göthe's Egmont beobachtet, wenn man in Schiller's Wallenstein genau pvi_1212.029
unterscheidet, wo unter dem Einflusse des großen Britten die gesättigte pvi_1212.030
Farbe der vollen Lebenswahrheit und wo dagegen die generalisirende Allgemeinheit pvi_1212.031
des Jdealismus durchdringt, wenn man die Aeußerung von Gervinus pvi_1212.032
über Schiller's Charaktere: sie halten sich in einer Mitte zwischen pvi_1212.033
der typischen Art der Alten und der individuellen des Shakespeare (Neuere pvi_1212.034
Gesch. d. poet. Nat.=Lit. d. Deutsch. Th. 2. S. 506) wohl überlegt. Letztere pvi_1212.035
ist zwar nicht ganz richtig; diese Mitte suchen wir erst, sie ist das Ziel unserer pvi_1212.036
Poesie, aber das Wort gibt viel zu denken. – Der §. faßt in Kürze die pvi_1212.037
schon in früheren Abschnitten mehrfach besprochenen Grundzüge beider Style pvi_1212.038
noch einmal zusammen und hebt als neuen Zug nur die kühnere Mischung pvi_1212.039
des Ernsten und Komischen hervor; jede weitere Auseinandersetzung an der pvi_1212.040
gegenwärtigen Stelle wäre zweckwidrig, weil in der Folge der große Unterschied, pvi_1212.041
von dem es sich handelt, auf allen Hauptpuncten hervortritt und
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |