Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
pvi_1215.001 §. 850. pvi_1215.021Der poetische Styl, wie er im sprachlichen Ausdruck erscheint, hat1. pvi_1215.022 1. Wir haben (§. 836 Anm.) gesehen, wie zwar auch im gewöhnlichen pvi_1215.033
pvi_1215.001 §. 850. pvi_1215.021Der poetische Styl, wie er im sprachlichen Ausdruck erscheint, hat1. pvi_1215.022 1. Wir haben (§. 836 Anm.) gesehen, wie zwar auch im gewöhnlichen pvi_1215.033 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0077" n="1215"/><lb n="pvi_1215.001"/> entgehen, und die freilich unbequemen Benennungen: naturalistisch und <lb n="pvi_1215.002"/> individualisirend vorgezogen; wir werden jedoch von nun an beide Begriffe <lb n="pvi_1215.003"/> auch in dem Ausdrucke <hi rendition="#g">charakteristisch</hi> zusammenfassen. Jn §. 39 ist <lb n="pvi_1215.004"/> gezeigt, daß der Begriff des Charakteristischen in der Lehre vom Schönen <lb n="pvi_1215.005"/> an sich zu einer müßigen Streitfrage führt, aber auch vorgesorgt, ihm in <lb n="pvi_1215.006"/> der concreten Kunstwelt ohne Mißverständniß seine Anwendung zu sichern. <lb n="pvi_1215.007"/> Uebrigens vermeiden wir es, diesen Styl romantisch zu nennen, ihm also <lb n="pvi_1215.008"/> einen geschichtlichen Namen beizulegen, wie dem andern. Er ruht ja keineswegs <lb n="pvi_1215.009"/> ebenso auf einem musterhaften Vorbilde, das im Mittelalter gegeben <lb n="pvi_1215.010"/> wäre, wie dieser auf dem ewigen Vorbilde des Alterthums; seine Grundlagen <lb n="pvi_1215.011"/> sind dem Mittelalter und der neuen Zeit gemeinschaftlich, den Unterschied <lb n="pvi_1215.012"/> in der Entwicklung derselben verfolgen wir hier noch nicht. Der Begriff <lb n="pvi_1215.013"/> des Romantischen hat überdieß durch eine krankhafte Art, das Mittelalter <lb n="pvi_1215.014"/> zu erneuern, einen schiefen Nebenton bekommen. – Das Schwere in <lb n="pvi_1215.015"/> den Unterscheidungen liegt aber auch darin, daß in der Poesie noch mehr, <lb n="pvi_1215.016"/> als in der Malerei, die beiden Stylrichtungen sich mannigfach durchkreuzen <lb n="pvi_1215.017"/> und brechen, daß in beiden Lagern verwickelte Mischungen aus dem Entgegengesetzten <lb n="pvi_1215.018"/> sich darstellen. Daraus erhellt jedoch nur um so mehr die <lb n="pvi_1215.019"/> besondere chemische Kraft, welche in der Poesie diesem Gegensatze zukommt.</hi> </p> </div> </div> <lb n="pvi_1215.020"/> <div n="3"> <p> <hi rendition="#c">§. 850.</hi> </p> <lb n="pvi_1215.021"/> <p> Der poetische Styl, wie er im <hi rendition="#g">sprachlichen Ausdruck</hi> erscheint, hat<note place="right">1.</note> <lb n="pvi_1215.022"/> die prosaisch gewordene Sprache so zu behandeln, daß mit der Bezeichnung <lb n="pvi_1215.023"/> auch das Bild des Bezeichneten in selbständiger Kraft vor der Phantasie ersteht <lb n="pvi_1215.024"/> und sich lebendig bewegt. Die Dichtkunst wirkt dadurch schöpferisch und Sprachbildend <lb n="pvi_1215.025"/> stets von Neuem auch auf die Prosa zurück. Da aber das <hi rendition="#g">Ganze</hi><note place="right">2.</note> <lb n="pvi_1215.026"/> ihrer Thätigkeit auf lebendige Veranschaulichung gerichtet ist und da sie die <lb n="pvi_1215.027"/> Nachahmung der Malerei zu vermeiden hat (§. 847), so ist sie in den <hi rendition="#g">einzelnen <lb n="pvi_1215.028"/> Mitteln</hi> einfach und spart den reicheren Glanz den Momenten der <lb n="pvi_1215.029"/> entsprechenden Stimmung auf. Systematische Aufzählung dieser Mittel setzt die <lb n="pvi_1215.030"/> Prosa voraus und gehört der Rhetorik an; die Poetik hat nur die wesentlichen <lb n="pvi_1215.031"/> Formen derselben zu unterscheiden.</p> <lb n="pvi_1215.032"/> <p> <hi rendition="#et"> 1. Wir haben (§. 836 Anm.) gesehen, wie zwar auch im gewöhnlichen <lb n="pvi_1215.033"/> Gebrauche der Sprache das Sprachzeichen immer ein Bild des Bezeichneten <lb n="pvi_1215.034"/> vor die innere Vorstellung ruft, aber dieß Bild nothwendig matt und unbestimmt <lb n="pvi_1215.035"/> bleibt, wie mit dem Fortschritte des Bildungszwecks der Sprache <lb n="pvi_1215.036"/> das Band zwischen Bedeutung und Wort mehr und mehr dem Mechanismus <lb n="pvi_1215.037"/> bloßer Gedächtniß-Verknüpfung weicht. Die Sprache, wie sie dadurch geworden, <lb n="pvi_1215.038"/> dient dem prosaischen Bewußtsein, das keine Absicht haben kann, </hi> </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1215/0077]
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entgehen, und die freilich unbequemen Benennungen: naturalistisch und pvi_1215.002
individualisirend vorgezogen; wir werden jedoch von nun an beide Begriffe pvi_1215.003
auch in dem Ausdrucke charakteristisch zusammenfassen. Jn §. 39 ist pvi_1215.004
gezeigt, daß der Begriff des Charakteristischen in der Lehre vom Schönen pvi_1215.005
an sich zu einer müßigen Streitfrage führt, aber auch vorgesorgt, ihm in pvi_1215.006
der concreten Kunstwelt ohne Mißverständniß seine Anwendung zu sichern. pvi_1215.007
Uebrigens vermeiden wir es, diesen Styl romantisch zu nennen, ihm also pvi_1215.008
einen geschichtlichen Namen beizulegen, wie dem andern. Er ruht ja keineswegs pvi_1215.009
ebenso auf einem musterhaften Vorbilde, das im Mittelalter gegeben pvi_1215.010
wäre, wie dieser auf dem ewigen Vorbilde des Alterthums; seine Grundlagen pvi_1215.011
sind dem Mittelalter und der neuen Zeit gemeinschaftlich, den Unterschied pvi_1215.012
in der Entwicklung derselben verfolgen wir hier noch nicht. Der Begriff pvi_1215.013
des Romantischen hat überdieß durch eine krankhafte Art, das Mittelalter pvi_1215.014
zu erneuern, einen schiefen Nebenton bekommen. – Das Schwere in pvi_1215.015
den Unterscheidungen liegt aber auch darin, daß in der Poesie noch mehr, pvi_1215.016
als in der Malerei, die beiden Stylrichtungen sich mannigfach durchkreuzen pvi_1215.017
und brechen, daß in beiden Lagern verwickelte Mischungen aus dem Entgegengesetzten pvi_1215.018
sich darstellen. Daraus erhellt jedoch nur um so mehr die pvi_1215.019
besondere chemische Kraft, welche in der Poesie diesem Gegensatze zukommt.
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§. 850.
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Der poetische Styl, wie er im sprachlichen Ausdruck erscheint, hat pvi_1215.022
die prosaisch gewordene Sprache so zu behandeln, daß mit der Bezeichnung pvi_1215.023
auch das Bild des Bezeichneten in selbständiger Kraft vor der Phantasie ersteht pvi_1215.024
und sich lebendig bewegt. Die Dichtkunst wirkt dadurch schöpferisch und Sprachbildend pvi_1215.025
stets von Neuem auch auf die Prosa zurück. Da aber das Ganze pvi_1215.026
ihrer Thätigkeit auf lebendige Veranschaulichung gerichtet ist und da sie die pvi_1215.027
Nachahmung der Malerei zu vermeiden hat (§. 847), so ist sie in den einzelnen pvi_1215.028
Mitteln einfach und spart den reicheren Glanz den Momenten der pvi_1215.029
entsprechenden Stimmung auf. Systematische Aufzählung dieser Mittel setzt die pvi_1215.030
Prosa voraus und gehört der Rhetorik an; die Poetik hat nur die wesentlichen pvi_1215.031
Formen derselben zu unterscheiden.
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1. Wir haben (§. 836 Anm.) gesehen, wie zwar auch im gewöhnlichen pvi_1215.033
Gebrauche der Sprache das Sprachzeichen immer ein Bild des Bezeichneten pvi_1215.034
vor die innere Vorstellung ruft, aber dieß Bild nothwendig matt und unbestimmt pvi_1215.035
bleibt, wie mit dem Fortschritte des Bildungszwecks der Sprache pvi_1215.036
das Band zwischen Bedeutung und Wort mehr und mehr dem Mechanismus pvi_1215.037
bloßer Gedächtniß-Verknüpfung weicht. Die Sprache, wie sie dadurch geworden, pvi_1215.038
dient dem prosaischen Bewußtsein, das keine Absicht haben kann,
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