Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
pvi_1217.001 2. Das Ganze der poetischen Schöpfung und die einzelnen Mittel derselben pvi_1217.031
pvi_1217.001 2. Das Ganze der poetischen Schöpfung und die einzelnen Mittel derselben pvi_1217.031 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0079" n="1217"/><lb n="pvi_1217.001"/> Prosa diese Schöpfungen angeeignet, so werden sie allmälig auch verbraucht <lb n="pvi_1217.002"/> und fallen hinüber zu dem gemeinen Vorrathe der durch Gewohnheit abgeschliffenen <lb n="pvi_1217.003"/> Sprachmünze, die man verwendet, ohne dabei innerlich etwas <lb n="pvi_1217.004"/> zu schauen. Diese Abnützung ist von furchtbarer Stärke. Man bedenke <lb n="pvi_1217.005"/> nur, daß ja die Sprache ursprünglich keine unsinnliche Bezeichnung hatte, <lb n="pvi_1217.006"/> daß ein Wort um das andere seine sinnliche Bedeutung in eine geistige <lb n="pvi_1217.007"/> verwandeln mußte, gegen deren schöne metaphorische Bedeutung man mit <lb n="pvi_1217.008"/> der Zeit stumpf wurde. Wie dieß im Ganzen und Großen geschah, so <lb n="pvi_1217.009"/> wiederholt es sich immer im Einzelnen. Der abreibende Verbruch wird <lb n="pvi_1217.010"/> vermehrt durch eine höchst tadelnswerthe Verschwendung, welche ohne Noth <lb n="pvi_1217.011"/> Bezeichnungen voll organisch anschaulicher Kraft für das Gewöhnlichste <lb n="pvi_1217.012"/> ausgibt. Wie schön ist das Wort Entwicklung und wie Viele brauchen <lb n="pvi_1217.013"/> es, wo Werden, Wachsen, sich Bilden und dergl. vollkommen hinreichend <lb n="pvi_1217.014"/> wäre! Wie treffend ist Hegel's: „von Haus aus“ und wie hat man es <lb n="pvi_1217.015"/> für alles und jedes Anfängliche verschwendet! Jm ausdrücklich Bildlichen <lb n="pvi_1217.016"/> kommt dazu, daß so manche schlagende Vergleichung im ernsten Sinn unbrauchbar <lb n="pvi_1217.017"/> wird, weil sie zu häufig komisch verwendet worden und die blöde, <lb n="pvi_1217.018"/> frivole, stumpfe Messe nicht fähig ist, den Vergleichungspunct fest im Auge <lb n="pvi_1217.019"/> zu behalten und nach dem Uebrigen nicht umzusehen. Wir könnten keinen <lb n="pvi_1217.020"/> Helden mehr mit einem Eber, Esel vergleichen wie Homer, das Nibelungenlied, <lb n="pvi_1217.021"/> das A. Test., das Kameel haben uns die Studenten weggenommen. <lb n="pvi_1217.022"/> Shakespeare durfte ein sehr helles Auge mit dem der Kröte vergleichen und <lb n="pvi_1217.023"/> kein Lachen gebildeter Weinreisender befürchten, die wohl meinen, er habe <lb n="pvi_1217.024"/> nicht gewußt, daß die Kröte im Uebrigen häßlich ist. Die Stärke und <lb n="pvi_1217.025"/> Raschheit der Abnützung fordert allerdings stets auf's Neue die Zeugungskraft <lb n="pvi_1217.026"/> der Poesie heraus, führt aber zugleich die Versuchung mit sich, daß <lb n="pvi_1217.027"/> der sprachliche Ausdruck sich überhitze, übersteigere, um ja der stark und <lb n="pvi_1217.028"/> weit angewachsenen Prosa zu trotzen. Dieß führt zu dem wichtigen Satze, <lb n="pvi_1217.029"/> den der zweite Theil des §. aufstellt.</hi> </p> <lb n="pvi_1217.030"/> <p> <hi rendition="#et"> 2. Das Ganze der poetischen Schöpfung und die einzelnen Mittel derselben <lb n="pvi_1217.031"/> im sprachlichen Ausdrucke sind streng zu unterscheiden. Jenes muß <lb n="pvi_1217.032"/> ursprünglich so empfangen sein, daß die Jdee nicht anders, denn als lebendige <lb n="pvi_1217.033"/> Gestalt vor dem Jnnern des Dichters steht, und daraus ergeben sich ihm <lb n="pvi_1217.034"/> die Mittel, wodurch er sein Bild in den Zuhörer überträgt, mit innerer <lb n="pvi_1217.035"/> Nothwendigkeit; diese Nothwendigkeit mag ihm selbst verborgen sein, er mag <lb n="pvi_1217.036"/> im Einzelnen zweifeln, wählen, verändern, sie leitet ihn dennoch als Gesetz <lb n="pvi_1217.037"/> und die Bemühung um das Einzelne ist daher nicht, wie es scheint, ein <lb n="pvi_1217.038"/> besonderer, zweiter Act seines Thuns. Ausdrücklicher Accent, den er auf <lb n="pvi_1217.039"/> die einzelnen Schönheiten legt, als bestünden sie für sich, erregt daher bei <lb n="pvi_1217.040"/> Allen, die um das wahre Wesen der Dichtkunst wissen, den Verdacht, daß <lb n="pvi_1217.041"/> es gelte, Blößen des Ganzen zu verhüllen. Man wird bei den großen </hi> </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1217/0079]
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Prosa diese Schöpfungen angeeignet, so werden sie allmälig auch verbraucht pvi_1217.002
und fallen hinüber zu dem gemeinen Vorrathe der durch Gewohnheit abgeschliffenen pvi_1217.003
Sprachmünze, die man verwendet, ohne dabei innerlich etwas pvi_1217.004
zu schauen. Diese Abnützung ist von furchtbarer Stärke. Man bedenke pvi_1217.005
nur, daß ja die Sprache ursprünglich keine unsinnliche Bezeichnung hatte, pvi_1217.006
daß ein Wort um das andere seine sinnliche Bedeutung in eine geistige pvi_1217.007
verwandeln mußte, gegen deren schöne metaphorische Bedeutung man mit pvi_1217.008
der Zeit stumpf wurde. Wie dieß im Ganzen und Großen geschah, so pvi_1217.009
wiederholt es sich immer im Einzelnen. Der abreibende Verbruch wird pvi_1217.010
vermehrt durch eine höchst tadelnswerthe Verschwendung, welche ohne Noth pvi_1217.011
Bezeichnungen voll organisch anschaulicher Kraft für das Gewöhnlichste pvi_1217.012
ausgibt. Wie schön ist das Wort Entwicklung und wie Viele brauchen pvi_1217.013
es, wo Werden, Wachsen, sich Bilden und dergl. vollkommen hinreichend pvi_1217.014
wäre! Wie treffend ist Hegel's: „von Haus aus“ und wie hat man es pvi_1217.015
für alles und jedes Anfängliche verschwendet! Jm ausdrücklich Bildlichen pvi_1217.016
kommt dazu, daß so manche schlagende Vergleichung im ernsten Sinn unbrauchbar pvi_1217.017
wird, weil sie zu häufig komisch verwendet worden und die blöde, pvi_1217.018
frivole, stumpfe Messe nicht fähig ist, den Vergleichungspunct fest im Auge pvi_1217.019
zu behalten und nach dem Uebrigen nicht umzusehen. Wir könnten keinen pvi_1217.020
Helden mehr mit einem Eber, Esel vergleichen wie Homer, das Nibelungenlied, pvi_1217.021
das A. Test., das Kameel haben uns die Studenten weggenommen. pvi_1217.022
Shakespeare durfte ein sehr helles Auge mit dem der Kröte vergleichen und pvi_1217.023
kein Lachen gebildeter Weinreisender befürchten, die wohl meinen, er habe pvi_1217.024
nicht gewußt, daß die Kröte im Uebrigen häßlich ist. Die Stärke und pvi_1217.025
Raschheit der Abnützung fordert allerdings stets auf's Neue die Zeugungskraft pvi_1217.026
der Poesie heraus, führt aber zugleich die Versuchung mit sich, daß pvi_1217.027
der sprachliche Ausdruck sich überhitze, übersteigere, um ja der stark und pvi_1217.028
weit angewachsenen Prosa zu trotzen. Dieß führt zu dem wichtigen Satze, pvi_1217.029
den der zweite Theil des §. aufstellt.
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2. Das Ganze der poetischen Schöpfung und die einzelnen Mittel derselben pvi_1217.031
im sprachlichen Ausdrucke sind streng zu unterscheiden. Jenes muß pvi_1217.032
ursprünglich so empfangen sein, daß die Jdee nicht anders, denn als lebendige pvi_1217.033
Gestalt vor dem Jnnern des Dichters steht, und daraus ergeben sich ihm pvi_1217.034
die Mittel, wodurch er sein Bild in den Zuhörer überträgt, mit innerer pvi_1217.035
Nothwendigkeit; diese Nothwendigkeit mag ihm selbst verborgen sein, er mag pvi_1217.036
im Einzelnen zweifeln, wählen, verändern, sie leitet ihn dennoch als Gesetz pvi_1217.037
und die Bemühung um das Einzelne ist daher nicht, wie es scheint, ein pvi_1217.038
besonderer, zweiter Act seines Thuns. Ausdrücklicher Accent, den er auf pvi_1217.039
die einzelnen Schönheiten legt, als bestünden sie für sich, erregt daher bei pvi_1217.040
Allen, die um das wahre Wesen der Dichtkunst wissen, den Verdacht, daß pvi_1217.041
es gelte, Blößen des Ganzen zu verhüllen. Man wird bei den großen
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