Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
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pvi_1218.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0080" n="1218"/><lb n="pvi_1218.001"/> Dichtern eine Grundlage tüchtiger Nüchternheit, gesunder Trockenheit finden; <lb n="pvi_1218.002"/> ohne diese herbe Wurzel schwebt die Phantasie taumelnd in der Luft. Jst <lb n="pvi_1218.003"/> nur das Ganze poetisch empfangen und empfunden, so mag es im Uebrigen <lb n="pvi_1218.004"/> gut schlicht und natürlich hergehen. Man sehe z. B. wie außerordentlich <lb n="pvi_1218.005"/> einfach die Begebenheit in der Braut von Corinth erzählt ist; eine Menge <lb n="pvi_1218.006"/> von Wendungen kommen vor, die unsere Bilderüberwürzten, in jedem <lb n="pvi_1218.007"/> Wort aufgestelzten modernen Lyriker als platt und prosaisch verachten würden, <lb n="pvi_1218.008"/> aber welcher Stimmungshauch zittert über den einfachen Worten, wie düster <lb n="pvi_1218.009"/> spannend, bebend schreitet die Handlung fort, wie ist Alles geschaut! Wenn <lb n="pvi_1218.010"/> im Drama ein Charakter wie leibhaftig geschaffen ist, hat er dann nöthig, <lb n="pvi_1218.011"/> in jeder einzelnen Rede den Mund voll zu nehmen? Der epische Dichter, <lb n="pvi_1218.012"/> wenn er zu viele ausdrückliche Anstalten trifft, sein inneres Bild vor unsere <lb n="pvi_1218.013"/> Anschauung zu bringen, fällt in jenes Malen, das wir als Vergehen gegen <lb n="pvi_1218.014"/> den poetischen Styl in §. 847 aufgezeigt haben. Einfachheit darf freilich <lb n="pvi_1218.015"/> nie mit Dürftigkeit verwechselt werden; das deutsche Epos mit seinen trockenen <lb n="pvi_1218.016"/> Farben, seiner unentwickelten Jntention der Anschauung gibt ein Beispiel. <lb n="pvi_1218.017"/> Selbst den Durchbruch reicherer Fülle, prachtvoller Bilder-Häufungen schließt <lb n="pvi_1218.018"/> das Gesetz der Sparsamkeit nicht aus; wo immer Sache und Stimmung <lb n="pvi_1218.019"/> den Begriff des Vollen und Ergiebigen mit sich führen, muß auch die <lb n="pvi_1218.020"/> Sprache sprudeln. Man vergegenwärtige sich z. B. Shakespeare's Prachtstelle <lb n="pvi_1218.021"/> voll Ueberschwall der Bilder in Heinrich <hi rendition="#aq">IV</hi>, Abtheil. 1, Aufzug 4, <lb n="pvi_1218.022"/> Sc. 1: „Ganz rüstig, ganz in Waffen“ u. s. w.; hier mußte, um ein in <lb n="pvi_1218.023"/> strotzendem Kraftgefühl und jugendlicher Kriegeslust heranwimmelndes Heer <lb n="pvi_1218.024"/> zu schildern, auch der Ausdruck strotzen und wimmeln. Die Komik ohnedieß <lb n="pvi_1218.025"/> fordert stellenweis ihre verschwenderischen Witzspiele. Geht aber der <lb n="pvi_1218.026"/> Dichter zu ausdrücklich auf die einzelnen Schönheiten, so wird er sie auch <lb n="pvi_1218.027"/> in der Quantität ohne wahres Motiv steigern. Es ist vorzüglich die Ueberfülle <lb n="pvi_1218.028"/> derselben, was Argwohn gegen die innere Poesie des Ganzen erregt. <lb n="pvi_1218.029"/> Die ganze orientalische Dichtung häuft die Pracht des Einzelnen in dem Grade, <lb n="pvi_1218.030"/> in welchem das innere Verhältniß zwischen Jdee und Bild nicht das organisch <lb n="pvi_1218.031"/> ästhetische ist; sie schlägt dem symbolischen, ästhetisch dürftigeren Kern einen <lb n="pvi_1218.032"/> um so reicheren, mit Bilderbrillanten besäten Mantel um. Schiller's zu <lb n="pvi_1218.033"/> glänzender Jambenstrom verräth einen innern Mangel seiner poetischen Begabung, <lb n="pvi_1218.034"/> wo er nicht durch feurige Energie im speziellen Zusammenhange <lb n="pvi_1218.035"/> motivirt ist. Jn seiner Jugendpoesie geht die Uebersättigung des Styls <lb n="pvi_1218.036"/> vielfach bis zur Absurdität der euphuistischen Phrasen und <hi rendition="#aq">concetti</hi>, aber <lb n="pvi_1218.037"/> er hat sich geläutert und wie tief er theoretisch das Richtige erkannte, zeigt <lb n="pvi_1218.038"/> Nro. 377 im Briefwechsel mit Göthe, wo er den folgereichen Satz von <lb n="pvi_1218.039"/> einem gewissen Antagonismus zwischen Jnhalt und Darstellung ausspricht: <lb n="pvi_1218.040"/> sei der Jnhalt bedeutend, so könne eine magere Darstellung ihm recht wohl <lb n="pvi_1218.041"/> anstehen, wogegen ein unpoetischer, gemeiner Jnhalt, wie er in einem größeren </hi> </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1218/0080]
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Dichtern eine Grundlage tüchtiger Nüchternheit, gesunder Trockenheit finden; pvi_1218.002
ohne diese herbe Wurzel schwebt die Phantasie taumelnd in der Luft. Jst pvi_1218.003
nur das Ganze poetisch empfangen und empfunden, so mag es im Uebrigen pvi_1218.004
gut schlicht und natürlich hergehen. Man sehe z. B. wie außerordentlich pvi_1218.005
einfach die Begebenheit in der Braut von Corinth erzählt ist; eine Menge pvi_1218.006
von Wendungen kommen vor, die unsere Bilderüberwürzten, in jedem pvi_1218.007
Wort aufgestelzten modernen Lyriker als platt und prosaisch verachten würden, pvi_1218.008
aber welcher Stimmungshauch zittert über den einfachen Worten, wie düster pvi_1218.009
spannend, bebend schreitet die Handlung fort, wie ist Alles geschaut! Wenn pvi_1218.010
im Drama ein Charakter wie leibhaftig geschaffen ist, hat er dann nöthig, pvi_1218.011
in jeder einzelnen Rede den Mund voll zu nehmen? Der epische Dichter, pvi_1218.012
wenn er zu viele ausdrückliche Anstalten trifft, sein inneres Bild vor unsere pvi_1218.013
Anschauung zu bringen, fällt in jenes Malen, das wir als Vergehen gegen pvi_1218.014
den poetischen Styl in §. 847 aufgezeigt haben. Einfachheit darf freilich pvi_1218.015
nie mit Dürftigkeit verwechselt werden; das deutsche Epos mit seinen trockenen pvi_1218.016
Farben, seiner unentwickelten Jntention der Anschauung gibt ein Beispiel. pvi_1218.017
Selbst den Durchbruch reicherer Fülle, prachtvoller Bilder-Häufungen schließt pvi_1218.018
das Gesetz der Sparsamkeit nicht aus; wo immer Sache und Stimmung pvi_1218.019
den Begriff des Vollen und Ergiebigen mit sich führen, muß auch die pvi_1218.020
Sprache sprudeln. Man vergegenwärtige sich z. B. Shakespeare's Prachtstelle pvi_1218.021
voll Ueberschwall der Bilder in Heinrich IV, Abtheil. 1, Aufzug 4, pvi_1218.022
Sc. 1: „Ganz rüstig, ganz in Waffen“ u. s. w.; hier mußte, um ein in pvi_1218.023
strotzendem Kraftgefühl und jugendlicher Kriegeslust heranwimmelndes Heer pvi_1218.024
zu schildern, auch der Ausdruck strotzen und wimmeln. Die Komik ohnedieß pvi_1218.025
fordert stellenweis ihre verschwenderischen Witzspiele. Geht aber der pvi_1218.026
Dichter zu ausdrücklich auf die einzelnen Schönheiten, so wird er sie auch pvi_1218.027
in der Quantität ohne wahres Motiv steigern. Es ist vorzüglich die Ueberfülle pvi_1218.028
derselben, was Argwohn gegen die innere Poesie des Ganzen erregt. pvi_1218.029
Die ganze orientalische Dichtung häuft die Pracht des Einzelnen in dem Grade, pvi_1218.030
in welchem das innere Verhältniß zwischen Jdee und Bild nicht das organisch pvi_1218.031
ästhetische ist; sie schlägt dem symbolischen, ästhetisch dürftigeren Kern einen pvi_1218.032
um so reicheren, mit Bilderbrillanten besäten Mantel um. Schiller's zu pvi_1218.033
glänzender Jambenstrom verräth einen innern Mangel seiner poetischen Begabung, pvi_1218.034
wo er nicht durch feurige Energie im speziellen Zusammenhange pvi_1218.035
motivirt ist. Jn seiner Jugendpoesie geht die Uebersättigung des Styls pvi_1218.036
vielfach bis zur Absurdität der euphuistischen Phrasen und concetti, aber pvi_1218.037
er hat sich geläutert und wie tief er theoretisch das Richtige erkannte, zeigt pvi_1218.038
Nro. 377 im Briefwechsel mit Göthe, wo er den folgereichen Satz von pvi_1218.039
einem gewissen Antagonismus zwischen Jnhalt und Darstellung ausspricht: pvi_1218.040
sei der Jnhalt bedeutend, so könne eine magere Darstellung ihm recht wohl pvi_1218.041
anstehen, wogegen ein unpoetischer, gemeiner Jnhalt, wie er in einem größeren
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