Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
pvi_1230.001 Jn aller Vergleichung soll natürlich der Vergleichungspunct treffend, pvi_1230.017 Die Vorschrift, im Bilde zu bleiben, kann den ächten Dichter pvi_1230.038
pvi_1230.001 Jn aller Vergleichung soll natürlich der Vergleichungspunct treffend, pvi_1230.017 Die Vorschrift, im Bilde zu bleiben, kann den ächten Dichter pvi_1230.038 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0092" n="1230"/><lb n="pvi_1230.001"/> Mutter kam mir in's Auge und übergab mich den Thränen <anchor xml:id="vi050"/> <note targetEnd="vi050" type="metapher" ana="#m1-0-3-0 #m1-2-3 #m1-4-1-0" target="vi049"> Paraphrase, da nicht als Zitat markiert; Quelle: <bibl>William Shakespeare: König Heinrich V. <ref>https://textgridrep.org/browse/-/browse/vnf1_0</ref> </bibl> </note> , <anchor xml:id="vi051"/> so wird sich <lb n="pvi_1230.002"/> eine lebendige Phantasie dieß nicht in die trockene Aeußerlichkeit der Vergleichung <lb n="pvi_1230.003"/> auflösen: eine weibliche Rührung kam über mich, als würde der <lb n="pvi_1230.004"/> Theil meiner Natur, den ich von meiner Mutter geerbt, über den männlichen <lb n="pvi_1230.005"/> Herr, sondern ein Bild wird vor uns auftauchen, als schwebte der <lb n="pvi_1230.006"/> Geist der Mutter herein in den Sohn wie ein Thauwind und schmölze <lb n="pvi_1230.007"/> seine männliche Härte <anchor xml:id="vi052"/> <note targetEnd="vi052" type="metapher" ana="#m1-0-1-2 #m1-2-3 #m1-4-1-0 #m1-8-1-2 #m1-9-1" target="vi051"> Quelle: <bibl>William Shakespeare: König Heinrich V. <ref>https://textgridrep.org/browse/-/browse/vnf1_0</ref> </bibl> </note> . Vergleichungen der äußern Natur mit Geistigem <lb n="pvi_1230.008"/> werden frostig, allegorisch, wenn das Bild zu bestimmt heraus und neben <lb n="pvi_1230.009"/> die Sache hingestellt ist. Es mögen wohl z. B. in gewisser Stimmung <lb n="pvi_1230.010"/> die letzten Wellenschläge nach einem Sturm im Gefühl anklingen wie das <lb n="pvi_1230.011"/> Nachzucken einer Leidenschaft, die sich eben erst gelegt hat, aber wenn Lenau, <lb n="pvi_1230.012"/> nachdem die Naturerscheinung geschildert ist, mit „also zuckt nach starkem <lb n="pvi_1230.013"/> Weinen“ u. s. w. fortfährt, so tritt das moralische Phänomen äußerlich <lb n="pvi_1230.014"/> neben das natürliche und vernichtet eigentlich dieses, statt innig hineingefühlt <lb n="pvi_1230.015"/> zu sein.</hi> </p> <lb n="pvi_1230.016"/> <p> <hi rendition="#et"> Jn aller Vergleichung soll natürlich der Vergleichungspunct treffend, <lb n="pvi_1230.017"/> schlagend sein. Othello's Bild für das schauerliche Nachwirken von Jago's <lb n="pvi_1230.018"/> Einflüsterungen über Desdemona's Tuch: „o, es schwebt um mich so wie <lb n="pvi_1230.019"/> der Rab' um ein verpestet Haus“ ist ein schönes Beispiel tiefer Zweckmäßigkeit <lb n="pvi_1230.020"/> im Gleichniß. Ruhige Kraft des Ueberzeugens ziemt vorzüglich <lb n="pvi_1230.021"/> der epischen Poesie; Göthe's Geist erweist sich in der einfachen Nothwendigkeit <lb n="pvi_1230.022"/> und plastischen Sicherheit seiner Bilder als vorzüglich episch, selbst <lb n="pvi_1230.023"/> im Drama. Wir greifen aus der unendlichen Fülle nur als nächstes, bestes <lb n="pvi_1230.024"/> Beispiel das tief schlagende Bild des Orestes in der Jphigenie von den <lb n="pvi_1230.025"/> Furien heraus, die ihn nur so lange verschonen, als er im Heiligthum <lb n="pvi_1230.026"/> Dianen's weilt: „Wölfe harren so um den Baum, auf den ein Reisender <lb n="pvi_1230.027"/> sich rettete“. Auch in der Prosa ist er außerordentlich reich an solchen ruhig <lb n="pvi_1230.028"/> treffenden Bildern (z. B. an Frau v. Stein auf der Harzreise: „die Menschen <lb n="pvi_1230.029"/> streichen sich bei meinem Jncognito recht auf mir auf wie auf einem Probirsteine“; <lb n="pvi_1230.030"/> – „behalten Sie mich lieb auch durch die Eiskruste, vielleicht wird's <lb n="pvi_1230.031"/> mit mir wie mit gefrornem Wein“; – aus der Schweiz: „Himmelsluft, <lb n="pvi_1230.032"/> weich, warm, feuchtlich, man wird auch wie die Trauben reif und süß in <lb n="pvi_1230.033"/> der Seele“). Es muß aber auch ächt poetische Bilder, und zwar im ernsten <lb n="pvi_1230.034"/> Gebiete, geben, die nicht unmittelbar einleuchten und doch tief treffend sind. <lb n="pvi_1230.035"/> Dieß führt auf den Unterschied der Style und muß bei der Betrachtung <lb n="pvi_1230.036"/> desselben zur Sprache kommen.</hi> </p> <lb n="pvi_1230.037"/> <p> <hi rendition="#et"> Die Vorschrift, <hi rendition="#g">im Bilde zu bleiben,</hi> kann den ächten Dichter <lb n="pvi_1230.038"/> nicht unbedingt binden. Wirkliche Verstöße, die man als sog. Katachresen <lb n="pvi_1230.039"/> zu den Sünden gegen den Geschmack zählen muß, finden nur da Statt, wo <lb n="pvi_1230.040"/> durch einen eigentlichen <hi rendition="#aq">lapsus</hi> der Aufmerksamkeit aus einer Vergleichungs= <lb n="pvi_1230.041"/> Region in eine andere übergeschritten wird, die keine naturgemäße Verbindung </hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1230/0092]
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Mutter kam mir in's Auge und übergab mich den Thränen Paraphrase, da nicht als Zitat markiert; Quelle: William Shakespeare: König Heinrich V. https://textgridrep.org/browse/-/browse/vnf1_0 , so wird sich pvi_1230.002
eine lebendige Phantasie dieß nicht in die trockene Aeußerlichkeit der Vergleichung pvi_1230.003
auflösen: eine weibliche Rührung kam über mich, als würde der pvi_1230.004
Theil meiner Natur, den ich von meiner Mutter geerbt, über den männlichen pvi_1230.005
Herr, sondern ein Bild wird vor uns auftauchen, als schwebte der pvi_1230.006
Geist der Mutter herein in den Sohn wie ein Thauwind und schmölze pvi_1230.007
seine männliche Härte Quelle: William Shakespeare: König Heinrich V. https://textgridrep.org/browse/-/browse/vnf1_0 . Vergleichungen der äußern Natur mit Geistigem pvi_1230.008
werden frostig, allegorisch, wenn das Bild zu bestimmt heraus und neben pvi_1230.009
die Sache hingestellt ist. Es mögen wohl z. B. in gewisser Stimmung pvi_1230.010
die letzten Wellenschläge nach einem Sturm im Gefühl anklingen wie das pvi_1230.011
Nachzucken einer Leidenschaft, die sich eben erst gelegt hat, aber wenn Lenau, pvi_1230.012
nachdem die Naturerscheinung geschildert ist, mit „also zuckt nach starkem pvi_1230.013
Weinen“ u. s. w. fortfährt, so tritt das moralische Phänomen äußerlich pvi_1230.014
neben das natürliche und vernichtet eigentlich dieses, statt innig hineingefühlt pvi_1230.015
zu sein.
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Jn aller Vergleichung soll natürlich der Vergleichungspunct treffend, pvi_1230.017
schlagend sein. Othello's Bild für das schauerliche Nachwirken von Jago's pvi_1230.018
Einflüsterungen über Desdemona's Tuch: „o, es schwebt um mich so wie pvi_1230.019
der Rab' um ein verpestet Haus“ ist ein schönes Beispiel tiefer Zweckmäßigkeit pvi_1230.020
im Gleichniß. Ruhige Kraft des Ueberzeugens ziemt vorzüglich pvi_1230.021
der epischen Poesie; Göthe's Geist erweist sich in der einfachen Nothwendigkeit pvi_1230.022
und plastischen Sicherheit seiner Bilder als vorzüglich episch, selbst pvi_1230.023
im Drama. Wir greifen aus der unendlichen Fülle nur als nächstes, bestes pvi_1230.024
Beispiel das tief schlagende Bild des Orestes in der Jphigenie von den pvi_1230.025
Furien heraus, die ihn nur so lange verschonen, als er im Heiligthum pvi_1230.026
Dianen's weilt: „Wölfe harren so um den Baum, auf den ein Reisender pvi_1230.027
sich rettete“. Auch in der Prosa ist er außerordentlich reich an solchen ruhig pvi_1230.028
treffenden Bildern (z. B. an Frau v. Stein auf der Harzreise: „die Menschen pvi_1230.029
streichen sich bei meinem Jncognito recht auf mir auf wie auf einem Probirsteine“; pvi_1230.030
– „behalten Sie mich lieb auch durch die Eiskruste, vielleicht wird's pvi_1230.031
mit mir wie mit gefrornem Wein“; – aus der Schweiz: „Himmelsluft, pvi_1230.032
weich, warm, feuchtlich, man wird auch wie die Trauben reif und süß in pvi_1230.033
der Seele“). Es muß aber auch ächt poetische Bilder, und zwar im ernsten pvi_1230.034
Gebiete, geben, die nicht unmittelbar einleuchten und doch tief treffend sind. pvi_1230.035
Dieß führt auf den Unterschied der Style und muß bei der Betrachtung pvi_1230.036
desselben zur Sprache kommen.
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Die Vorschrift, im Bilde zu bleiben, kann den ächten Dichter pvi_1230.038
nicht unbedingt binden. Wirkliche Verstöße, die man als sog. Katachresen pvi_1230.039
zu den Sünden gegen den Geschmack zählen muß, finden nur da Statt, wo pvi_1230.040
durch einen eigentlichen lapsus der Aufmerksamkeit aus einer Vergleichungs= pvi_1230.041
Region in eine andere übergeschritten wird, die keine naturgemäße Verbindung
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