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Dr. Vollmer’s Wörterbuch der Mythologie aller Völker. 3. Aufl. Stuttgart, 1874.

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haben, von dem man späterhin wieder abgefallen sei, um in Vielgötterei zu gerathen. Wir sind ausser Stande, den Verlauf dieses Prozesses für einen nothwendigen zu betrachten, wofür ihn Schelling hält, um aus Gott das Werden der Natur zu erklären. Lassen wir den im religiösen Sinne gebrauchten Ausdruck "Abfall" bei Seite. Von Rückschritten ganzer Völker ist die Weltgeschichte voll, nur gehen die Rückschritte schwerlich von Gott aus.

Vergebens sucht Schelling die seltsame Struktur seines Gebäudes durch die Einwendung zu stützen, dass "man es nicht anders als absurd nennen könne", wenn man dem Menschen den umgekehrten Weg zutraue, ihn erst in ein freies und besonnenes Verhältniss zur Natur setze, also ihn die Sterne als blosse Naturgegenstände empfinden und hernach erst sie willkürlich vergöttern lasse. Allein die Schlussfolgerung scheint verfehlt, da der Satz nicht richtig ist, wonach wir dem ersten Menschengeschlecht, welches zum Gottbegriff vordrang, ein freies und besonnenes Verhältniss zur Natur beimessen sollen. So weit gehen wir nicht, besonders nicht heutzutag; wir weisen blos auf die wohlthätigen Wirkungen hin, die nach und nach die Menschen empfinden und schätzen lernten; diese Wirkungen mussten doch einen Urheber haben, und desshalb geriethen die besten und klügsten Beobachter auf die einfachste aller Vermuthungen, dass hier wohl Götter ihre Macht entfalten dürften. Offene sinnende Augen gehörten zu dieser Erkennung der Verhältnisse, weiter nichts; solche Augen aber waren den Menschen mitgegeben worden, und nur diesen. Sie konnten sehen lernen.

Ebenso wenig dient es dem Vorgehen unsers Philosophen zur Stütze, wenn er den Satz aufstellt, dass "der Mensch, indem er dem mythologischen Prozess anheimfiel, den sein Bewusstsein sich zugezogen" hatte, "nicht in die Natur zurückgefallen, dass er vielmehr der Natur entrückt, durch eine wahre Verzauberung ausser die Natur versetzt worden sei, in das geistige Prius aller Natur, das die Natur als solche für ihn aufgehoben" habe.* Ein solcher Vorgang wäre dem Menschen gegenüber eine Art von Wunder, aber kein Prozess successiver geistiger Entwicklung, wie wir ihn, mindestens heutzutag, für natürlich und nothwendig ansehen. Freilich, Schellings System brachte eine derartige Anschauung der Dinge mit sich und erleichterte ihm so manche Schlussfolgerung, die wir nicht anerkennen können. Namentlich aber in historischer Beziehung scheidet er nicht sorgfältig genug ältere und jüngere Thatsachen, sondern verbindet bei seiner reichen Belesenheit allerlei Notizen, um sie theils für seine Ideen zu verwenden oder nach seinem Sinne zu erklären. Aeusserst fremdartig muthet es uns an, wenn er "in der vorgeschichtlichen Zeit eine Ruhe und Stille statuirt, die nur der tiefen, feierlichen Stille des Himmels vergleichbar ist. Denn wie der Himmel keine Ereignisse kennt und in lautloser Stille ist, heute wie vor Jahrtausenden, so jene Zeit." Eine derartige Epoche, das wissen wir jetzt, hat auf der Erde niemals existirt, am wenigsten von dem Augenblicke an, wo das Leben, wenn man so sagen darf, sich erzeugte, rührte und regte in seinen unzähligen, körperlichen Einfassungen! Uebrigens ist es sehr auffällig, dass Schelling die Masse seiner ältesten Menschheit, wie es scheint, durchweg für gleichbegabt ansieht und an keine hervorragenden Individuen denkt, welche in ihr jene Religion angefangen, gefördert, verbreitet hätten. Vielmehr sagt er frank und frei, dass "die älteste Menschheit den Mächten des Himmels diente", und "nicht

* Das Schelling'sche Prius der Natur ist dar Gott ausser der Natur, der durch die Natur seiend wird, seien könnend u. s. w. Der Ausdruck "aufgehoben" ist sehr gewählt und soll wohl bedeuten: "zurückgelassen" oder dergleichen.

haben, von dem man späterhin wieder abgefallen sei, um in Vielgötterei zu gerathen. Wir sind ausser Stande, den Verlauf dieses Prozesses für einen nothwendigen zu betrachten, wofür ihn Schelling hält, um aus Gott das Werden der Natur zu erklären. Lassen wir den im religiösen Sinne gebrauchten Ausdruck »Abfall« bei Seite. Von Rückschritten ganzer Völker ist die Weltgeschichte voll, nur gehen die Rückschritte schwerlich von Gott aus.

Vergebens sucht Schelling die seltsame Struktur seines Gebäudes durch die Einwendung zu stützen, dass »man es nicht anders als absurd nennen könne«, wenn man dem Menschen den umgekehrten Weg zutraue, ihn erst in ein freies und besonnenes Verhältniss zur Natur setze, also ihn die Sterne als blosse Naturgegenstände empfinden und hernach erst sie willkürlich vergöttern lasse. Allein die Schlussfolgerung scheint verfehlt, da der Satz nicht richtig ist, wonach wir dem ersten Menschengeschlecht, welches zum Gottbegriff vordrang, ein freies und besonnenes Verhältniss zur Natur beimessen sollen. So weit gehen wir nicht, besonders nicht heutzutag; wir weisen blos auf die wohlthätigen Wirkungen hin, die nach und nach die Menschen empfinden und schätzen lernten; diese Wirkungen mussten doch einen Urheber haben, und desshalb geriethen die besten und klügsten Beobachter auf die einfachste aller Vermuthungen, dass hier wohl Götter ihre Macht entfalten dürften. Offene sinnende Augen gehörten zu dieser Erkennung der Verhältnisse, weiter nichts; solche Augen aber waren den Menschen mitgegeben worden, und nur diesen. Sie konnten sehen lernen.

Ebenso wenig dient es dem Vorgehen unsers Philosophen zur Stütze, wenn er den Satz aufstellt, dass »der Mensch, indem er dem mythologischen Prozess anheimfiel, den sein Bewusstsein sich zugezogen« hatte, »nicht in die Natur zurückgefallen, dass er vielmehr der Natur entrückt, durch eine wahre Verzauberung ausser die Natur versetzt worden sei, in das geistige Prius aller Natur, das die Natur als solche für ihn aufgehoben« habe.* Ein solcher Vorgang wäre dem Menschen gegenüber eine Art von Wunder, aber kein Prozess successiver geistiger Entwicklung, wie wir ihn, mindestens heutzutag, für natürlich und nothwendig ansehen. Freilich, Schellings System brachte eine derartige Anschauung der Dinge mit sich und erleichterte ihm so manche Schlussfolgerung, die wir nicht anerkennen können. Namentlich aber in historischer Beziehung scheidet er nicht sorgfältig genug ältere und jüngere Thatsachen, sondern verbindet bei seiner reichen Belesenheit allerlei Notizen, um sie theils für seine Ideen zu verwenden oder nach seinem Sinne zu erklären. Aeusserst fremdartig muthet es uns an, wenn er »in der vorgeschichtlichen Zeit eine Ruhe und Stille statuirt, die nur der tiefen, feierlichen Stille des Himmels vergleichbar ist. Denn wie der Himmel keine Ereignisse kennt und in lautloser Stille ist, heute wie vor Jahrtausenden, so jene Zeit.« Eine derartige Epoche, das wissen wir jetzt, hat auf der Erde niemals existirt, am wenigsten von dem Augenblicke an, wo das Leben, wenn man so sagen darf, sich erzeugte, rührte und regte in seinen unzähligen, körperlichen Einfassungen! Uebrigens ist es sehr auffällig, dass Schelling die Masse seiner ältesten Menschheit, wie es scheint, durchweg für gleichbegabt ansieht und an keine hervorragenden Individuen denkt, welche in ihr jene Religion angefangen, gefördert, verbreitet hätten. Vielmehr sagt er frank und frei, dass »die älteste Menschheit den Mächten des Himmels diente«, und »nicht

* Das Schelling'sche Prius der Natur ist dar Gott ausser der Natur, der durch die Natur seiend wird, seien könnend u. s. w. Der Ausdruck »aufgehoben« ist sehr gewählt und soll wohl bedeuten: »zurückgelassen« oder dergleichen.
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          <p>Vergebens sucht Schelling die seltsame Struktur seines Gebäudes durch die Einwendung zu stützen, dass »man es nicht anders als absurd nennen könne«, wenn man dem Menschen den umgekehrten Weg zutraue, ihn erst in ein freies und besonnenes Verhältniss zur Natur setze, also ihn die Sterne als blosse Naturgegenstände empfinden und hernach erst sie willkürlich vergöttern lasse. Allein die Schlussfolgerung scheint verfehlt, da der Satz nicht richtig ist, wonach wir dem ersten Menschengeschlecht, welches zum Gottbegriff vordrang, ein freies und besonnenes Verhältniss zur Natur beimessen sollen. So weit gehen wir nicht, besonders nicht heutzutag; wir weisen blos auf die wohlthätigen Wirkungen hin, die nach und nach die Menschen empfinden und schätzen lernten; diese Wirkungen mussten doch einen Urheber haben, und desshalb geriethen die besten und klügsten Beobachter auf die einfachste aller Vermuthungen, dass hier wohl Götter ihre Macht entfalten dürften. Offene sinnende Augen gehörten zu dieser Erkennung der Verhältnisse, weiter nichts; solche Augen aber waren den Menschen mitgegeben worden, und nur diesen. Sie konnten sehen lernen.</p><lb/>
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Zitationshilfe: Dr. Vollmer’s Wörterbuch der Mythologie aller Völker. 3. Aufl. Stuttgart, 1874, S. XXX. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vollmer_mythologie_1874/30>, abgerufen am 21.11.2024.