Dr. Vollmer’s Wörterbuch der Mythologie aller Völker. 3. Aufl. Stuttgart, 1874.oder Nebelheim, ein eiskaltes und stürmisches Gebiet, oft verwechselt, wie es scheint, mit Helheim; im Osten dann Jotunheim, der Aufenthalt der Joten (Riesen). Die letzten zwei Reiche hatten ihren Platz zur rechten und linken Seite von Helheim, dem tiefsten Reiche, aber eine Strecke oberhalb desselben: im Westen Vanaheim (Wanaheim), das Land der ziemlich räthselhaften Vanen (Wanen), die in der Urzeit dem Asengeschlechte verfeindet waren, und im Süden Muspelheim, die Feuerwelt, bewohnt von den Muspelsöhnen mit ihrem Könige Surtur, welche oft hervorbrechen, um den Sitz der Asen in Brand zu stecken. Wir wollen die Lage der vier Seitenwelten noch näher bezeichnen: Niflheim und Jotunheim erstreckten sich oben seitwärts zwischen Asgard und Licht-Alfheim hin, dagegen Vanaheim und Muspelheim seitwärts in der Tiefe zwischen Helheim und Schwarz-Alfheim, so dass zwischen den beiden oberen und den beiden unteren Reichen eine ziemliche Entfernung war, die jedoch zu der im Mittelpunkte gelegenen Erde sich gleich verhielt. Das so getheilte Universum aber dachte man sich gehalten und getragen von einer ungeheueren Esche, welche mit ihrem Stamm und ihren Zweigen sich durch alle die genannten Welten hinzog und drei Hauptwurzeln hatte, die eine in Midgard, die zweite in Niflheim und die dritte in Jotunheim steckend, während ihr in die Lüfte strebender Wipfel, Namens Läradh, die Zinne von Asgard überragt und die Äsen täglich unter seinem Schatten versammelt. Dieser grösste und schönste Baum, der zugleich unvergänglich ist und selbst die einstige Verbrennung der Welt überdauert, führt die Benennung Yggdrasil (wörtlich die Schreckensträgerin). Den Ursprung dieser Vorstellung anlangend, haben wir in der riesigen Esche wohl, nach einer von dem Verfasser dieser Zeilen ausgesprochenen Vermuthung, die am Himmel glänzende Milchstrasse zu erkennen, welche in den wolkenlosen Nächten des kalten Nordens besonders hell schimmert, so dass ihre unübersehbare Gestalt auf die Phantasie den Eindruck eines die Welt umklammernden Riesenbaums hervorbringen mochte. Das Leben der nordischen Götter, ihr verschiedenartiges Walten, ihre Mängel und Missgriffe, welche letztern die Götterdämmerung Ragnarokr oder das Weltende zur Folge haben, können wir hier ebenso wenig schildern als das Loos der Erdenbewohner, ihren Verkehr mit den Asen, Riesen, Alfen, guten und bösen Dämonen. Die nordisch-deutsche Mythologie, so durchgebildet sie sonst erscheinen mag, charakterisirt eine gewisse trübe Färbung, welche sich ziemlich weit entfernt von der heiteren Anschauung, die im Allgemeinen die griechische Götterlehre auszeichnet. Jene entspricht dem dunkeln und rauhen Himmel, unter dem sie ersonnen ward, diese dem lichten und lachenden Firmament der glücklicheren Mittelmeerküsten. Ueberhaupt zeigt sich uns das griechische Göttersystem als das vollkommenste unter allen andern Vielgöttersystemen. Die Mythologie der Griechen ist die letzte, oder sie bildet, nach der schon erwähnten Ansicht Schellings, "das Ende eines Prozesses, in welchem die Mythologie entsteht", und zwar, wie dieser Denker meint, eines den Menschen durch Urgewalt aufgedrungenen Prozesses, welcher verschiedene Systeme nach einander gebracht habe, so dass je das frühere dem spätem zu Grunde gelegt worden sei. In wie weit diess geschehen, ist eine schwere Frage, zumal in Bezug auf die Hellenen, die alles Fremde selbstständig zu verarbeiten pflegten. Wir müssen hier nicht allein das übergehen, was Schelling von der altgermanischen und skandinavischen Götterlehre geäussert hat, sondern auch seine Betrachtungen über die Entfaltung und Vollendung des griechischen Systems. Und von dem letztern darf der Abriss sehr kurz ausfallen, wenn es mir erlaubt ist auf meinen "Katechismus" oder Nebelheim, ein eiskaltes und stürmisches Gebiet, oft verwechselt, wie es scheint, mit Helheim; im Osten dann Jotunheim, der Aufenthalt der Joten (Riesen). Die letzten zwei Reiche hatten ihren Platz zur rechten und linken Seite von Helheim, dem tiefsten Reiche, aber eine Strecke oberhalb desselben: im Westen Vanaheim (Wanaheim), das Land der ziemlich räthselhaften Vanen (Wanen), die in der Urzeit dem Asengeschlechte verfeindet waren, und im Süden Muspelheim, die Feuerwelt, bewohnt von den Muspelsöhnen mit ihrem Könige Surtur, welche oft hervorbrechen, um den Sitz der Asen in Brand zu stecken. Wir wollen die Lage der vier Seitenwelten noch näher bezeichnen: Niflheim und Jotunheim erstreckten sich oben seitwärts zwischen Asgard und Licht-Alfheim hin, dagegen Vanaheim und Muspelheim seitwärts in der Tiefe zwischen Helheim und Schwarz-Alfheim, so dass zwischen den beiden oberen und den beiden unteren Reichen eine ziemliche Entfernung war, die jedoch zu der im Mittelpunkte gelegenen Erde sich gleich verhielt. Das so getheilte Universum aber dachte man sich gehalten und getragen von einer ungeheueren Esche, welche mit ihrem Stamm und ihren Zweigen sich durch alle die genannten Welten hinzog und drei Hauptwurzeln hatte, die eine in Midgard, die zweite in Niflheim und die dritte in Jotunheim steckend, während ihr in die Lüfte strebender Wipfel, Namens Läradh, die Zinne von Asgard überragt und die Äsen täglich unter seinem Schatten versammelt. Dieser grösste und schönste Baum, der zugleich unvergänglich ist und selbst die einstige Verbrennung der Welt überdauert, führt die Benennung Yggdrasil (wörtlich die Schreckensträgerin). Den Ursprung dieser Vorstellung anlangend, haben wir in der riesigen Esche wohl, nach einer von dem Verfasser dieser Zeilen ausgesprochenen Vermuthung, die am Himmel glänzende Milchstrasse zu erkennen, welche in den wolkenlosen Nächten des kalten Nordens besonders hell schimmert, so dass ihre unübersehbare Gestalt auf die Phantasie den Eindruck eines die Welt umklammernden Riesenbaums hervorbringen mochte. Das Leben der nordischen Götter, ihr verschiedenartiges Walten, ihre Mängel und Missgriffe, welche letztern die Götterdämmerung Ragnarokr oder das Weltende zur Folge haben, können wir hier ebenso wenig schildern als das Loos der Erdenbewohner, ihren Verkehr mit den Asen, Riesen, Alfen, guten und bösen Dämonen. Die nordisch-deutsche Mythologie, so durchgebildet sie sonst erscheinen mag, charakterisirt eine gewisse trübe Färbung, welche sich ziemlich weit entfernt von der heiteren Anschauung, die im Allgemeinen die griechische Götterlehre auszeichnet. Jene entspricht dem dunkeln und rauhen Himmel, unter dem sie ersonnen ward, diese dem lichten und lachenden Firmament der glücklicheren Mittelmeerküsten. Ueberhaupt zeigt sich uns das griechische Göttersystem als das vollkommenste unter allen andern Vielgöttersystemen. Die Mythologie der Griechen ist die letzte, oder sie bildet, nach der schon erwähnten Ansicht Schellings, »das Ende eines Prozesses, in welchem die Mythologie entsteht«, und zwar, wie dieser Denker meint, eines den Menschen durch Urgewalt aufgedrungenen Prozesses, welcher verschiedene Systeme nach einander gebracht habe, so dass je das frühere dem spätem zu Grunde gelegt worden sei. In wie weit diess geschehen, ist eine schwere Frage, zumal in Bezug auf die Hellenen, die alles Fremde selbstständig zu verarbeiten pflegten. Wir müssen hier nicht allein das übergehen, was Schelling von der altgermanischen und skandinavischen Götterlehre geäussert hat, sondern auch seine Betrachtungen über die Entfaltung und Vollendung des griechischen Systems. Und von dem letztern darf der Abriss sehr kurz ausfallen, wenn es mir erlaubt ist auf meinen »Katechismus« <TEI> <text> <front> <div type="preface" n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0055" n="LV"/> oder Nebelheim, ein eiskaltes und stürmisches Gebiet, oft verwechselt, wie es scheint, mit Helheim; im Osten dann <hi rendition="#g">Jotunheim</hi>, der Aufenthalt der Joten (Riesen). 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In wie weit diess geschehen, ist eine schwere Frage, zumal in Bezug auf die Hellenen, die alles Fremde selbstständig zu verarbeiten pflegten. Wir müssen hier nicht allein das übergehen, was Schelling von der altgermanischen und skandinavischen Götterlehre geäussert hat, sondern auch seine Betrachtungen über die Entfaltung und Vollendung des griechischen Systems. Und von dem letztern darf der Abriss sehr kurz ausfallen, wenn es mir erlaubt ist auf meinen »Katechismus« </p> </div> </div> </front> </text> </TEI> [LV/0055]
oder Nebelheim, ein eiskaltes und stürmisches Gebiet, oft verwechselt, wie es scheint, mit Helheim; im Osten dann Jotunheim, der Aufenthalt der Joten (Riesen). Die letzten zwei Reiche hatten ihren Platz zur rechten und linken Seite von Helheim, dem tiefsten Reiche, aber eine Strecke oberhalb desselben: im Westen Vanaheim (Wanaheim), das Land der ziemlich räthselhaften Vanen (Wanen), die in der Urzeit dem Asengeschlechte verfeindet waren, und im Süden Muspelheim, die Feuerwelt, bewohnt von den Muspelsöhnen mit ihrem Könige Surtur, welche oft hervorbrechen, um den Sitz der Asen in Brand zu stecken. Wir wollen die Lage der vier Seitenwelten noch näher bezeichnen: Niflheim und Jotunheim erstreckten sich oben seitwärts zwischen Asgard und Licht-Alfheim hin, dagegen Vanaheim und Muspelheim seitwärts in der Tiefe zwischen Helheim und Schwarz-Alfheim, so dass zwischen den beiden oberen und den beiden unteren Reichen eine ziemliche Entfernung war, die jedoch zu der im Mittelpunkte gelegenen Erde sich gleich verhielt.
Das so getheilte Universum aber dachte man sich gehalten und getragen von einer ungeheueren Esche, welche mit ihrem Stamm und ihren Zweigen sich durch alle die genannten Welten hinzog und drei Hauptwurzeln hatte, die eine in Midgard, die zweite in Niflheim und die dritte in Jotunheim steckend, während ihr in die Lüfte strebender Wipfel, Namens Läradh, die Zinne von Asgard überragt und die Äsen täglich unter seinem Schatten versammelt. Dieser grösste und schönste Baum, der zugleich unvergänglich ist und selbst die einstige Verbrennung der Welt überdauert, führt die Benennung Yggdrasil (wörtlich die Schreckensträgerin). Den Ursprung dieser Vorstellung anlangend, haben wir in der riesigen Esche wohl, nach einer von dem Verfasser dieser Zeilen ausgesprochenen Vermuthung, die am Himmel glänzende Milchstrasse zu erkennen, welche in den wolkenlosen Nächten des kalten Nordens besonders hell schimmert, so dass ihre unübersehbare Gestalt auf die Phantasie den Eindruck eines die Welt umklammernden Riesenbaums hervorbringen mochte.
Das Leben der nordischen Götter, ihr verschiedenartiges Walten, ihre Mängel und Missgriffe, welche letztern die Götterdämmerung Ragnarokr oder das Weltende zur Folge haben, können wir hier ebenso wenig schildern als das Loos der Erdenbewohner, ihren Verkehr mit den Asen, Riesen, Alfen, guten und bösen Dämonen. Die nordisch-deutsche Mythologie, so durchgebildet sie sonst erscheinen mag, charakterisirt eine gewisse trübe Färbung, welche sich ziemlich weit entfernt von der heiteren Anschauung, die im Allgemeinen die griechische Götterlehre auszeichnet. Jene entspricht dem dunkeln und rauhen Himmel, unter dem sie ersonnen ward, diese dem lichten und lachenden Firmament der glücklicheren Mittelmeerküsten.
Ueberhaupt zeigt sich uns das griechische Göttersystem als das vollkommenste unter allen andern Vielgöttersystemen. Die Mythologie der Griechen ist die letzte, oder sie bildet, nach der schon erwähnten Ansicht Schellings, »das Ende eines Prozesses, in welchem die Mythologie entsteht«, und zwar, wie dieser Denker meint, eines den Menschen durch Urgewalt aufgedrungenen Prozesses, welcher verschiedene Systeme nach einander gebracht habe, so dass je das frühere dem spätem zu Grunde gelegt worden sei. In wie weit diess geschehen, ist eine schwere Frage, zumal in Bezug auf die Hellenen, die alles Fremde selbstständig zu verarbeiten pflegten. Wir müssen hier nicht allein das übergehen, was Schelling von der altgermanischen und skandinavischen Götterlehre geäussert hat, sondern auch seine Betrachtungen über die Entfaltung und Vollendung des griechischen Systems. Und von dem letztern darf der Abriss sehr kurz ausfallen, wenn es mir erlaubt ist auf meinen »Katechismus«
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