Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Voß, Julius von: Ini. Ein Roman aus dem ein und zwanzigsten Jahrhundert. Berlin, 1810.

Bild:
<< vorherige Seite

aufgeführt. Nun wehten die südlichen Lüfte freier,
die aus Norden wurden beträchtlich gehemmt.

Durch alle solche Maaßregeln hatte die Be¬
völkerung der Stadt bis auf eine Million zuge¬
nommen. Die alten Festungwerke vertilgte man
längst, wo sonst die Vorstädtische Linie ging, be¬
gränzte sich nunmehro die Stadt, die neuen Vor¬
städte flossen nicht nur mit Schönbrunn, Dorn¬
bach, Nußdorf, sondern sogar mit Enzersdorf
und Neuburg zusammen. Vergnügungen und
Wohlleben wurden überall sichtbar. Guido be¬
suchte an einem Abend den maskirten Ball. Sein
Lehrer folgte ihm nicht, hatte Daheim zu schrei¬
ben. Die alte Sitte, sich scherzend zu verlar¬
ven, bestand noch, doch feinsinniger und deu¬
tungreicher. Der Jüngling erblickte viele Schön¬
heiten, anziehend durch liebliche Formen, bei al¬
lem dichten Gewande. Doch ruhte sein Auge
mehr neugierig als betroffen darauf. Eine aber
darunter, wie Hebe gekleidet, das Gesicht bis
an den Mund verschleiert, regte seine Aufmerk¬
samkeit lebendiger an. Höchst edler Gang, be¬
zaubernde Harmonie in allen Bewegungen, der
untere Theil des Gesichts, wo sich das Kinn in
zarten Wellenlinien, der ausdruckvolle, lächelnde

aufgefuͤhrt. Nun wehten die ſuͤdlichen Luͤfte freier,
die aus Norden wurden betraͤchtlich gehemmt.

Durch alle ſolche Maaßregeln hatte die Be¬
voͤlkerung der Stadt bis auf eine Million zuge¬
nommen. Die alten Feſtungwerke vertilgte man
laͤngſt, wo ſonſt die Vorſtaͤdtiſche Linie ging, be¬
graͤnzte ſich nunmehro die Stadt, die neuen Vor¬
ſtaͤdte floſſen nicht nur mit Schoͤnbrunn, Dorn¬
bach, Nußdorf, ſondern ſogar mit Enzersdorf
und Neuburg zuſammen. Vergnuͤgungen und
Wohlleben wurden uͤberall ſichtbar. Guido be¬
ſuchte an einem Abend den maskirten Ball. Sein
Lehrer folgte ihm nicht, hatte Daheim zu ſchrei¬
ben. Die alte Sitte, ſich ſcherzend zu verlar¬
ven, beſtand noch, doch feinſinniger und deu¬
tungreicher. Der Juͤngling erblickte viele Schoͤn¬
heiten, anziehend durch liebliche Formen, bei al¬
lem dichten Gewande. Doch ruhte ſein Auge
mehr neugierig als betroffen darauf. Eine aber
darunter, wie Hebe gekleidet, das Geſicht bis
an den Mund verſchleiert, regte ſeine Aufmerk¬
ſamkeit lebendiger an. Hoͤchſt edler Gang, be¬
zaubernde Harmonie in allen Bewegungen, der
untere Theil des Geſichts, wo ſich das Kinn in
zarten Wellenlinien, der ausdruckvolle, laͤchelnde

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0233" n="221"/>
aufgefu&#x0364;hrt. Nun wehten die &#x017F;u&#x0364;dlichen Lu&#x0364;fte freier,<lb/>
die aus Norden wurden betra&#x0364;chtlich gehemmt.</p><lb/>
          <p>Durch alle &#x017F;olche Maaßregeln hatte die Be¬<lb/>
vo&#x0364;lkerung der Stadt bis auf eine Million zuge¬<lb/>
nommen. Die alten Fe&#x017F;tungwerke vertilgte man<lb/>
la&#x0364;ng&#x017F;t, wo &#x017F;on&#x017F;t die Vor&#x017F;ta&#x0364;dti&#x017F;che Linie ging, be¬<lb/>
gra&#x0364;nzte &#x017F;ich nunmehro die Stadt, die neuen Vor¬<lb/>
&#x017F;ta&#x0364;dte flo&#x017F;&#x017F;en nicht nur mit Scho&#x0364;nbrunn, Dorn¬<lb/>
bach, Nußdorf, &#x017F;ondern &#x017F;ogar mit Enzersdorf<lb/>
und Neuburg zu&#x017F;ammen. Vergnu&#x0364;gungen und<lb/>
Wohlleben wurden u&#x0364;berall &#x017F;ichtbar. Guido be¬<lb/>
&#x017F;uchte an einem Abend den maskirten Ball. Sein<lb/>
Lehrer folgte ihm nicht, hatte Daheim zu &#x017F;chrei¬<lb/>
ben. Die alte Sitte, &#x017F;ich &#x017F;cherzend zu verlar¬<lb/>
ven, be&#x017F;tand noch, doch fein&#x017F;inniger und deu¬<lb/>
tungreicher. Der Ju&#x0364;ngling erblickte viele Scho&#x0364;<lb/>
heiten, anziehend durch liebliche Formen, bei al¬<lb/>
lem dichten Gewande. Doch ruhte &#x017F;ein Auge<lb/>
mehr neugierig als betroffen darauf. Eine aber<lb/>
darunter, wie Hebe gekleidet, das Ge&#x017F;icht bis<lb/>
an den Mund ver&#x017F;chleiert, regte &#x017F;eine Aufmerk¬<lb/>
&#x017F;amkeit lebendiger an. Ho&#x0364;ch&#x017F;t edler Gang, be¬<lb/>
zaubernde Harmonie in allen Bewegungen, der<lb/>
untere Theil des Ge&#x017F;ichts, wo &#x017F;ich das Kinn in<lb/>
zarten Wellenlinien, der ausdruckvolle, la&#x0364;chelnde<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[221/0233] aufgefuͤhrt. Nun wehten die ſuͤdlichen Luͤfte freier, die aus Norden wurden betraͤchtlich gehemmt. Durch alle ſolche Maaßregeln hatte die Be¬ voͤlkerung der Stadt bis auf eine Million zuge¬ nommen. Die alten Feſtungwerke vertilgte man laͤngſt, wo ſonſt die Vorſtaͤdtiſche Linie ging, be¬ graͤnzte ſich nunmehro die Stadt, die neuen Vor¬ ſtaͤdte floſſen nicht nur mit Schoͤnbrunn, Dorn¬ bach, Nußdorf, ſondern ſogar mit Enzersdorf und Neuburg zuſammen. Vergnuͤgungen und Wohlleben wurden uͤberall ſichtbar. Guido be¬ ſuchte an einem Abend den maskirten Ball. Sein Lehrer folgte ihm nicht, hatte Daheim zu ſchrei¬ ben. Die alte Sitte, ſich ſcherzend zu verlar¬ ven, beſtand noch, doch feinſinniger und deu¬ tungreicher. Der Juͤngling erblickte viele Schoͤn¬ heiten, anziehend durch liebliche Formen, bei al¬ lem dichten Gewande. Doch ruhte ſein Auge mehr neugierig als betroffen darauf. Eine aber darunter, wie Hebe gekleidet, das Geſicht bis an den Mund verſchleiert, regte ſeine Aufmerk¬ ſamkeit lebendiger an. Hoͤchſt edler Gang, be¬ zaubernde Harmonie in allen Bewegungen, der untere Theil des Geſichts, wo ſich das Kinn in zarten Wellenlinien, der ausdruckvolle, laͤchelnde

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/voss_ini_1810
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/voss_ini_1810/233
Zitationshilfe: Voß, Julius von: Ini. Ein Roman aus dem ein und zwanzigsten Jahrhundert. Berlin, 1810, S. 221. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/voss_ini_1810/233>, abgerufen am 24.11.2024.