Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Voß, Julius von: Ini. Ein Roman aus dem ein und zwanzigsten Jahrhundert. Berlin, 1810.

Bild:
<< vorherige Seite

und der Begriff vollkommene Menschlich¬
keit
nach Maasgabe seiner geringeren oder vol¬
lendeteren Bildung, schwächer oder erhabener vor
seiner inneren Seele schwebte. Nichts übertraf
aber die Gestaltungen der Maria. Hier hatte sich
die reinste Poesie der Kunst entfaltet. Vor den
schönsten dieser Statuen, gingen die lieblichen
Mädchen von Athen selten weg, ohne einen
neuen Zug eigner Schönheit mitzunehmen.

Wie stannte aber der schönheitsinnige Guido,
von dieser Kunstsammlung umgeben! Er schöpfte
in der gefühlten Begeisterung frohen neuen Un¬
terricht über das Ebenmaaß der Formen, und
lernte Inis Gebote klarer verstehn. Hoch mußte
er jedoch bewundern, daß seine Geliebte, die sich
nimmer in Athen befunden, sondern ihr Studium
vor den Kunstwerken in Sizilien geübt hatte,
zu einer Idee gelangt war, welche dennoch näher
an die Vollkommenheit zu reichen schien, als
alles, was er hier erblickte.

Der gepriesene Meister trat wieder zu ihm
heran. Jüngling, nahm er das Wort, von
wannen du auch seist, du stammst aus einem Ge¬
schlechte, das durch eine lange Reihe von Glie¬
dern, hoher Entwicklung entgegen strebte.

und der Begriff vollkommene Menſchlich¬
keit
nach Maasgabe ſeiner geringeren oder vol¬
lendeteren Bildung, ſchwaͤcher oder erhabener vor
ſeiner inneren Seele ſchwebte. Nichts uͤbertraf
aber die Geſtaltungen der Maria. Hier hatte ſich
die reinſte Poeſie der Kunſt entfaltet. Vor den
ſchoͤnſten dieſer Statuen, gingen die lieblichen
Maͤdchen von Athen ſelten weg, ohne einen
neuen Zug eigner Schoͤnheit mitzunehmen.

Wie ſtannte aber der ſchoͤnheitſinnige Guido,
von dieſer Kunſtſammlung umgeben! Er ſchoͤpfte
in der gefuͤhlten Begeiſterung frohen neuen Un¬
terricht uͤber das Ebenmaaß der Formen, und
lernte Inis Gebote klarer verſtehn. Hoch mußte
er jedoch bewundern, daß ſeine Geliebte, die ſich
nimmer in Athen befunden, ſondern ihr Studium
vor den Kunſtwerken in Sizilien geuͤbt hatte,
zu einer Idee gelangt war, welche dennoch naͤher
an die Vollkommenheit zu reichen ſchien, als
alles, was er hier erblickte.

Der geprieſene Meiſter trat wieder zu ihm
heran. Juͤngling, nahm er das Wort, von
wannen du auch ſeiſt, du ſtammſt aus einem Ge¬
ſchlechte, das durch eine lange Reihe von Glie¬
dern, hoher Entwicklung entgegen ſtrebte.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0073" n="61"/>
und der Begriff <hi rendition="#g">vollkommene Men&#x017F;chlich¬<lb/>
keit</hi> nach Maasgabe &#x017F;einer geringeren oder vol¬<lb/>
lendeteren Bildung, &#x017F;chwa&#x0364;cher oder erhabener vor<lb/>
&#x017F;einer inneren Seele &#x017F;chwebte. Nichts u&#x0364;bertraf<lb/>
aber die Ge&#x017F;taltungen der Maria. Hier hatte &#x017F;ich<lb/>
die rein&#x017F;te Poe&#x017F;ie der Kun&#x017F;t entfaltet. Vor den<lb/>
&#x017F;cho&#x0364;n&#x017F;ten die&#x017F;er Statuen, gingen die lieblichen<lb/>
Ma&#x0364;dchen von Athen &#x017F;elten weg, ohne einen<lb/>
neuen Zug eigner Scho&#x0364;nheit mitzunehmen.</p><lb/>
          <p>Wie &#x017F;tannte aber der &#x017F;cho&#x0364;nheit&#x017F;innige Guido,<lb/>
von die&#x017F;er Kun&#x017F;t&#x017F;ammlung umgeben! Er &#x017F;cho&#x0364;pfte<lb/>
in der gefu&#x0364;hlten Begei&#x017F;terung frohen neuen Un¬<lb/>
terricht u&#x0364;ber das Ebenmaaß der Formen, und<lb/>
lernte Inis Gebote klarer ver&#x017F;tehn. Hoch mußte<lb/>
er jedoch bewundern, daß &#x017F;eine Geliebte, die &#x017F;ich<lb/>
nimmer in Athen befunden, &#x017F;ondern ihr Studium<lb/>
vor den Kun&#x017F;twerken in Sizilien geu&#x0364;bt hatte,<lb/>
zu einer Idee gelangt war, welche dennoch na&#x0364;her<lb/>
an die Vollkommenheit zu reichen &#x017F;chien, als<lb/>
alles, was er hier erblickte.</p><lb/>
          <p>Der geprie&#x017F;ene Mei&#x017F;ter trat wieder zu ihm<lb/>
heran. Ju&#x0364;ngling, nahm er das Wort, von<lb/>
wannen du auch &#x017F;ei&#x017F;t, du &#x017F;tamm&#x017F;t aus einem Ge¬<lb/>
&#x017F;chlechte, das durch eine lange Reihe von Glie¬<lb/>
dern, hoher Entwicklung entgegen &#x017F;trebte.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[61/0073] und der Begriff vollkommene Menſchlich¬ keit nach Maasgabe ſeiner geringeren oder vol¬ lendeteren Bildung, ſchwaͤcher oder erhabener vor ſeiner inneren Seele ſchwebte. Nichts uͤbertraf aber die Geſtaltungen der Maria. Hier hatte ſich die reinſte Poeſie der Kunſt entfaltet. Vor den ſchoͤnſten dieſer Statuen, gingen die lieblichen Maͤdchen von Athen ſelten weg, ohne einen neuen Zug eigner Schoͤnheit mitzunehmen. Wie ſtannte aber der ſchoͤnheitſinnige Guido, von dieſer Kunſtſammlung umgeben! Er ſchoͤpfte in der gefuͤhlten Begeiſterung frohen neuen Un¬ terricht uͤber das Ebenmaaß der Formen, und lernte Inis Gebote klarer verſtehn. Hoch mußte er jedoch bewundern, daß ſeine Geliebte, die ſich nimmer in Athen befunden, ſondern ihr Studium vor den Kunſtwerken in Sizilien geuͤbt hatte, zu einer Idee gelangt war, welche dennoch naͤher an die Vollkommenheit zu reichen ſchien, als alles, was er hier erblickte. Der geprieſene Meiſter trat wieder zu ihm heran. Juͤngling, nahm er das Wort, von wannen du auch ſeiſt, du ſtammſt aus einem Ge¬ ſchlechte, das durch eine lange Reihe von Glie¬ dern, hoher Entwicklung entgegen ſtrebte.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/voss_ini_1810
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/voss_ini_1810/73
Zitationshilfe: Voß, Julius von: Ini. Ein Roman aus dem ein und zwanzigsten Jahrhundert. Berlin, 1810, S. 61. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/voss_ini_1810/73>, abgerufen am 21.11.2024.