Als er zu athmen begann, und sein Geist dem Herzen zurückkam, Löst' er ab von der Brust den heiligen Schleier der Göttin, Warf ihn eilend zurück in die salzige Welle des Flußes; 460 Und ihn führte die Welle den Strom hinunter, und Ino Nahm ihn mit ihren Händen. Nun stieg der Held aus dem Fluße, Legte sich nieder auf Binsen, und küßte die fruchtbare Erde; Tiefaufseufzend sprach er zu seiner erhabenen Seele:
Weh mir Armen, was leid' ich, was werd' ich noch endlich erleben! 465 Wenn ich die grauliche Nacht an diesem Strome verweilte, Würde zugleich der starrende Frost und der thauende Nebel Mich entkräfteten, noch ohnmächtigen, gänzlich vertilgen; Denn kalt wehet der Wind aus dem Strome vor Sonnenaufgang! Aber klimm' ich hinan zum waldbeschatteten Hügel, 470 Unter dem dichten Gesträuche zu schlafen, wenn Frost und Ermattung Anders gestaten, daß mich der süße Schlummer befalle: Ach dann werd' ich vielleicht den reißenden Thieren zur Beute!
Dieser Gedanke schien dem Zweifelnden endlich der beßte, Hinzugehn in den Wald, der den weitumschauenden Hügel 475 Nah am Waßer bewuchs. Hier grüneten, ihn zu umhüllen, Zwei verschlungne Gebüsche, ein wilder und fruchtbarer Oelbaum. Nimmer durchstürmte den Ort die Wut naßhauchender Winde, Ihn erleuchtete nimmer mit warmen Stralen die Sonne, Selbst der gießende Regen durchdrang ihn nimmer: so dicht war 480 Sein Gezweige verwebt. Hier kroch der edle Odüßeus Unter, und bettete sich mit seinen Händen ein Lager, Hoch und breit; denn es deckten so viele Blätter den Boden, Daß zween Männer darunter und drei sich hätten geborgen Gegen den Wintersturm, auch wann er am schrecklichsten tobte.
Oduͤßee.
Als er zu athmen begann, und ſein Geiſt dem Herzen zuruͤckkam, Loͤſt' er ab von der Bruſt den heiligen Schleier der Goͤttin, Warf ihn eilend zuruͤck in die ſalzige Welle des Flußes; 460 Und ihn fuͤhrte die Welle den Strom hinunter, und Ino Nahm ihn mit ihren Haͤnden. Nun ſtieg der Held aus dem Fluße, Legte ſich nieder auf Binſen, und kuͤßte die fruchtbare Erde; Tiefaufſeufzend ſprach er zu ſeiner erhabenen Seele:
Weh mir Armen, was leid' ich, was werd' ich noch endlich erleben! 465 Wenn ich die grauliche Nacht an dieſem Strome verweilte, Wuͤrde zugleich der ſtarrende Froſt und der thauende Nebel Mich entkraͤfteten, noch ohnmaͤchtigen, gaͤnzlich vertilgen; Denn kalt wehet der Wind aus dem Strome vor Sonnenaufgang! Aber klimm' ich hinan zum waldbeſchatteten Huͤgel, 470 Unter dem dichten Geſtraͤuche zu ſchlafen, wenn Froſt und Ermattung Anders geſtaten, daß mich der ſuͤße Schlummer befalle: Ach dann werd' ich vielleicht den reißenden Thieren zur Beute!
Dieſer Gedanke ſchien dem Zweifelnden endlich der beßte, Hinzugehn in den Wald, der den weitumſchauenden Huͤgel 475 Nah am Waßer bewuchs. Hier gruͤneten, ihn zu umhuͤllen, Zwei verſchlungne Gebuͤſche, ein wilder und fruchtbarer Oelbaum. Nimmer durchſtuͤrmte den Ort die Wut naßhauchender Winde, Ihn erleuchtete nimmer mit warmen Stralen die Sonne, Selbſt der gießende Regen durchdrang ihn nimmer: ſo dicht war 480 Sein Gezweige verwebt. Hier kroch der edle Oduͤßeus Unter, und bettete ſich mit ſeinen Haͤnden ein Lager, Hoch und breit; denn es deckten ſo viele Blaͤtter den Boden, Daß zween Maͤnner darunter und drei ſich haͤtten geborgen Gegen den Winterſturm, auch wann er am ſchrecklichſten tobte.
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Oduͤßee.
Als er zu athmen begann, und ſein Geiſt dem Herzen zuruͤckkam,
Loͤſt' er ab von der Bruſt den heiligen Schleier der Goͤttin,
Warf ihn eilend zuruͤck in die ſalzige Welle des Flußes;
Und ihn fuͤhrte die Welle den Strom hinunter, und Ino
Nahm ihn mit ihren Haͤnden. Nun ſtieg der Held aus dem Fluße,
Legte ſich nieder auf Binſen, und kuͤßte die fruchtbare Erde;
Tiefaufſeufzend ſprach er zu ſeiner erhabenen Seele:
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Weh mir Armen, was leid' ich, was werd' ich noch endlich erleben!
Wenn ich die grauliche Nacht an dieſem Strome verweilte,
Wuͤrde zugleich der ſtarrende Froſt und der thauende Nebel
Mich entkraͤfteten, noch ohnmaͤchtigen, gaͤnzlich vertilgen;
Denn kalt wehet der Wind aus dem Strome vor Sonnenaufgang!
Aber klimm' ich hinan zum waldbeſchatteten Huͤgel,
Unter dem dichten Geſtraͤuche zu ſchlafen, wenn Froſt und Ermattung
Anders geſtaten, daß mich der ſuͤße Schlummer befalle:
Ach dann werd' ich vielleicht den reißenden Thieren zur Beute!
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Dieſer Gedanke ſchien dem Zweifelnden endlich der beßte,
Hinzugehn in den Wald, der den weitumſchauenden Huͤgel
Nah am Waßer bewuchs. Hier gruͤneten, ihn zu umhuͤllen,
Zwei verſchlungne Gebuͤſche, ein wilder und fruchtbarer Oelbaum.
Nimmer durchſtuͤrmte den Ort die Wut naßhauchender Winde,
Ihn erleuchtete nimmer mit warmen Stralen die Sonne,
Selbſt der gießende Regen durchdrang ihn nimmer: ſo dicht war
Sein Gezweige verwebt. Hier kroch der edle Oduͤßeus
Unter, und bettete ſich mit ſeinen Haͤnden ein Lager,
Hoch und breit; denn es deckten ſo viele Blaͤtter den Boden,
Daß zween Maͤnner darunter und drei ſich haͤtten geborgen
Gegen den Winterſturm, auch wann er am ſchrecklichſten tobte.
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Homerus: Odüssee übersezt von Johann Heinrich Voß. Hamburg, 1781, S. 112. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781/118>, abgerufen am 21.11.2024.
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