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Homerus: Odüssee übersezt von Johann Heinrich Voß. Hamburg, 1781.

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Sechster Gesang.

Also sprach er, und kroch aus dem Dickicht, der edle Odüßeus,
Brach mit der starken Faust sich aus dem dichten Gebüsche
Einen laubichten Zweig, des Mannes Blöße zu decken;
Ging dann einher, wie ein Leu des Gebirgs, voll Kühnheit und Stärke, 130
Welcher durch Regen und Sturm hinwandelt; die Augen im Haupte
Brennen ihm; furchtbar geht er zu Rindern oder zu Schafen,
Oder zu flüchtigen Hirschen des Waldes; ihn spornet der Hunger
Selbst in verschloßene Höf', ein kleines Vieh zu erhaschen:
Also ging der Held, in den Kreis schönlockiger Jungfraun 135
Sich zu mischen, so nackend er war; ihn spornte die Noth an.
Furchtbar erschien er den Mädchen, vom Schlamm des Meeres besudelt;
Hiehin und dorthin entflohn sie, und bargen sich hinter die Hügel.
Nur Nausikaa blieb. Ihr hatte Pallas Athänä
Mut in die Seele gehaucht, und die Furcht den Gliedern entnommen. 140
Und sie stand, und erwartete ihn. Da zweifelt' Odüßeus:
Ob er flehend umfaßte die Kniee der reizenden Jungfrau,
Oder, so wie er war, von ferne mit schmeichelnden Worten
Bäte, daß sie die Stadt ihm zeigt', und Kleider ihm schenkte.
Dieser Gedanke schien dem Zweifelnden endlich der beßte, 145
So wie er war, von ferne mit schmeichelnden Worten zu flehen;
Daß ihm das Mädchen nicht zürnte, wenn er die Kniee berührte.
Schmeichelnd begann er sogleich die schlau ersonnenen Worte:

Hohe, dir fleh ich; du seist eine Göttin, oder ein Mädchen!
Bist du eine der Göttinnen, welche den Himmel beherschen; 150
Siehe so scheinst du mir der Tochter des großen Kronions
Artemis gleich an Gestalt, an Größe und reizender Bildung!
Bist du eine der Sterblichen, welche die Erde bewohnen;
Dreimal selig dein Vater und deine trefliche Mutter,

Sechſter Geſang.

Alſo ſprach er, und kroch aus dem Dickicht, der edle Oduͤßeus,
Brach mit der ſtarken Fauſt ſich aus dem dichten Gebuͤſche
Einen laubichten Zweig, des Mannes Bloͤße zu decken;
Ging dann einher, wie ein Leu des Gebirgs, voll Kuͤhnheit und Staͤrke, 130
Welcher durch Regen und Sturm hinwandelt; die Augen im Haupte
Brennen ihm; furchtbar geht er zu Rindern oder zu Schafen,
Oder zu fluͤchtigen Hirſchen des Waldes; ihn ſpornet der Hunger
Selbſt in verſchloßene Hoͤf', ein kleines Vieh zu erhaſchen:
Alſo ging der Held, in den Kreis ſchoͤnlockiger Jungfraun 135
Sich zu miſchen, ſo nackend er war; ihn ſpornte die Noth an.
Furchtbar erſchien er den Maͤdchen, vom Schlamm des Meeres beſudelt;
Hiehin und dorthin entflohn ſie, und bargen ſich hinter die Huͤgel.
Nur Nauſikaa blieb. Ihr hatte Pallas Athaͤnaͤ
Mut in die Seele gehaucht, und die Furcht den Gliedern entnommen. 140
Und ſie ſtand, und erwartete ihn. Da zweifelt' Oduͤßeus:
Ob er flehend umfaßte die Kniee der reizenden Jungfrau,
Oder, ſo wie er war, von ferne mit ſchmeichelnden Worten
Baͤte, daß ſie die Stadt ihm zeigt', und Kleider ihm ſchenkte.
Dieſer Gedanke ſchien dem Zweifelnden endlich der beßte, 145
So wie er war, von ferne mit ſchmeichelnden Worten zu flehen;
Daß ihm das Maͤdchen nicht zuͤrnte, wenn er die Kniee beruͤhrte.
Schmeichelnd begann er ſogleich die ſchlau erſonnenen Worte:

Hohe, dir fleh ich; du ſeiſt eine Goͤttin, oder ein Maͤdchen!
Biſt du eine der Goͤttinnen, welche den Himmel beherſchen; 150
Siehe ſo ſcheinſt du mir der Tochter des großen Kronions
Artemis gleich an Geſtalt, an Groͤße und reizender Bildung!
Biſt du eine der Sterblichen, welche die Erde bewohnen;
Dreimal ſelig dein Vater und deine trefliche Mutter,

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[119/0125] Sechſter Geſang. Alſo ſprach er, und kroch aus dem Dickicht, der edle Oduͤßeus, Brach mit der ſtarken Fauſt ſich aus dem dichten Gebuͤſche Einen laubichten Zweig, des Mannes Bloͤße zu decken; Ging dann einher, wie ein Leu des Gebirgs, voll Kuͤhnheit und Staͤrke, Welcher durch Regen und Sturm hinwandelt; die Augen im Haupte Brennen ihm; furchtbar geht er zu Rindern oder zu Schafen, Oder zu fluͤchtigen Hirſchen des Waldes; ihn ſpornet der Hunger Selbſt in verſchloßene Hoͤf', ein kleines Vieh zu erhaſchen: Alſo ging der Held, in den Kreis ſchoͤnlockiger Jungfraun Sich zu miſchen, ſo nackend er war; ihn ſpornte die Noth an. Furchtbar erſchien er den Maͤdchen, vom Schlamm des Meeres beſudelt; Hiehin und dorthin entflohn ſie, und bargen ſich hinter die Huͤgel. Nur Nauſikaa blieb. Ihr hatte Pallas Athaͤnaͤ Mut in die Seele gehaucht, und die Furcht den Gliedern entnommen. Und ſie ſtand, und erwartete ihn. Da zweifelt' Oduͤßeus: Ob er flehend umfaßte die Kniee der reizenden Jungfrau, Oder, ſo wie er war, von ferne mit ſchmeichelnden Worten Baͤte, daß ſie die Stadt ihm zeigt', und Kleider ihm ſchenkte. Dieſer Gedanke ſchien dem Zweifelnden endlich der beßte, So wie er war, von ferne mit ſchmeichelnden Worten zu flehen; Daß ihm das Maͤdchen nicht zuͤrnte, wenn er die Kniee beruͤhrte. Schmeichelnd begann er ſogleich die ſchlau erſonnenen Worte: 130 135 140 145 Hohe, dir fleh ich; du ſeiſt eine Goͤttin, oder ein Maͤdchen! Biſt du eine der Goͤttinnen, welche den Himmel beherſchen; Siehe ſo ſcheinſt du mir der Tochter des großen Kronions Artemis gleich an Geſtalt, an Groͤße und reizender Bildung! Biſt du eine der Sterblichen, welche die Erde bewohnen; Dreimal ſelig dein Vater und deine trefliche Mutter, 150

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Zitationshilfe: Homerus: Odüssee übersezt von Johann Heinrich Voß. Hamburg, 1781, S. 119. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781/125>, abgerufen am 21.11.2024.