Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Homerus: Odüssee übersezt von Johann Heinrich Voß. Hamburg, 1781.

Bild:
<< vorherige Seite

Odüßee.
Eßt nach Herzensbegier, damit uns der Hunger nicht tödte!

Also sprach ich; und schnell gehorchten sie meinem Befehle,
Kamen aus ihren Hüllen, am Ufer des wüsten Meeres,
Und verwunderten sich des riesenmäßigen Hirsches. 180
Und nachdem sie die Augen an seiner Größe geweidet,
Wuschen sie ihre Hände, das herliche Mahl zu bereiten.
Also saßen wir dort den Tag, bis die Sonne sich neigte,
An der Fülle des Fleisches und süßen Weines uns labend.
Als die Sonne nun sank, und Dunkel die Erde bedeckte, 185
Legten wir uns zum Schlummer am Strande des rauschenden Meeres.
Als die dämmernde Frühe mit Rosensingern erwachte,
Rief ich alle Gefährten zur Rathsversammlung, und sagte:

Höret jezo mich an, ihr meine Genoßen im Unglück!
Freunde, wir wißen ja nicht, wo Abend oder wo Morgen; 190
Nicht, wo die leuchtende Sonne sich unter die Erde hinabsenkt,
Noch, wo sie wiederkehrt: drum müßen wir schnell uns bedenken,
Ist noch irgend ein Rath; ich sehe keinen mehr übrig.
Denn ich umschauete dort von der Höhe des zackichten Felsens
Diese Insel, die rings das unendliche Meer umgürtet, 195
Nahe liegt sie am Land'; und in der Mitte der Insel
Sah ich Rauch, der hinter dem dicken Gebüsche hervorstieg.

Also sprach ich; und ihnen brach das Herz vor Betrübniß,
Da sie des Laistrügonen Antifatäs Thaten bedachten,
Und des Küklopen Gewalt, des grausamen Menschenfreßers. 200
Und sie weineten laut, und vergoßen häufige Thränen.
Aber sie konnten ja nichts mit ihrer Klage gewinnen.

Jezo theilt' ich die Schaar der wohlgeharnischten Freunde
In zween Haufen, und gab jedwedem einen Gebieter.

Oduͤßee.
Eßt nach Herzensbegier, damit uns der Hunger nicht toͤdte!

Alſo ſprach ich; und ſchnell gehorchten ſie meinem Befehle,
Kamen aus ihren Huͤllen, am Ufer des wuͤſten Meeres,
Und verwunderten ſich des rieſenmaͤßigen Hirſches. 180
Und nachdem ſie die Augen an ſeiner Groͤße geweidet,
Wuſchen ſie ihre Haͤnde, das herliche Mahl zu bereiten.
Alſo ſaßen wir dort den Tag, bis die Sonne ſich neigte,
An der Fuͤlle des Fleiſches und ſuͤßen Weines uns labend.
Als die Sonne nun ſank, und Dunkel die Erde bedeckte, 185
Legten wir uns zum Schlummer am Strande des rauſchenden Meeres.
Als die daͤmmernde Fruͤhe mit Roſenſingern erwachte,
Rief ich alle Gefaͤhrten zur Rathsverſammlung, und ſagte:

Hoͤret jezo mich an, ihr meine Genoßen im Ungluͤck!
Freunde, wir wißen ja nicht, wo Abend oder wo Morgen; 190
Nicht, wo die leuchtende Sonne ſich unter die Erde hinabſenkt,
Noch, wo ſie wiederkehrt: drum muͤßen wir ſchnell uns bedenken,
Iſt noch irgend ein Rath; ich ſehe keinen mehr uͤbrig.
Denn ich umſchauete dort von der Hoͤhe des zackichten Felſens
Dieſe Inſel, die rings das unendliche Meer umguͤrtet, 195
Nahe liegt ſie am Land'; und in der Mitte der Inſel
Sah ich Rauch, der hinter dem dicken Gebuͤſche hervorſtieg.

Alſo ſprach ich; und ihnen brach das Herz vor Betruͤbniß,
Da ſie des Laiſtruͤgonen Antifataͤs Thaten bedachten,
Und des Kuͤklopen Gewalt, des grauſamen Menſchenfreßers. 200
Und ſie weineten laut, und vergoßen haͤufige Thraͤnen.
Aber ſie konnten ja nichts mit ihrer Klage gewinnen.

Jezo theilt' ich die Schaar der wohlgeharniſchten Freunde
In zween Haufen, und gab jedwedem einen Gebieter.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0196" n="190"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Odu&#x0364;ßee.</hi></fw><lb/>
Eßt nach Herzensbegier, damit uns der Hunger nicht to&#x0364;dte!</p><lb/>
        <p>Al&#x017F;o &#x017F;prach ich; und &#x017F;chnell gehorchten &#x017F;ie meinem Befehle,<lb/>
Kamen aus ihren Hu&#x0364;llen, am Ufer des wu&#x0364;&#x017F;ten Meeres,<lb/>
Und verwunderten &#x017F;ich des rie&#x017F;enma&#x0364;ßigen Hir&#x017F;ches. <note place="right">180</note><lb/>
Und nachdem &#x017F;ie die Augen an &#x017F;einer Gro&#x0364;ße geweidet,<lb/>
Wu&#x017F;chen &#x017F;ie ihre Ha&#x0364;nde, das herliche Mahl zu bereiten.<lb/>
Al&#x017F;o &#x017F;aßen wir dort den Tag, bis die Sonne &#x017F;ich neigte,<lb/>
An der Fu&#x0364;lle des Flei&#x017F;ches und &#x017F;u&#x0364;ßen Weines uns labend.<lb/>
Als die Sonne nun &#x017F;ank, und Dunkel die Erde bedeckte, <note place="right">185</note><lb/>
Legten wir uns zum Schlummer am Strande des rau&#x017F;chenden Meeres.<lb/>
Als die da&#x0364;mmernde Fru&#x0364;he mit Ro&#x017F;en&#x017F;ingern erwachte,<lb/>
Rief ich alle Gefa&#x0364;hrten zur Rathsver&#x017F;ammlung, und &#x017F;agte:</p><lb/>
        <p>Ho&#x0364;ret jezo mich an, ihr meine Genoßen im Unglu&#x0364;ck!<lb/>
Freunde, wir wißen ja nicht, wo Abend oder wo Morgen; <note place="right">190</note><lb/>
Nicht, wo die leuchtende Sonne &#x017F;ich unter die Erde hinab&#x017F;enkt,<lb/>
Noch, wo &#x017F;ie wiederkehrt: drum mu&#x0364;ßen wir &#x017F;chnell uns bedenken,<lb/>
I&#x017F;t noch irgend ein Rath; ich &#x017F;ehe keinen mehr u&#x0364;brig.<lb/>
Denn ich um&#x017F;chauete dort von der Ho&#x0364;he des zackichten Fel&#x017F;ens<lb/>
Die&#x017F;e In&#x017F;el, die rings das unendliche Meer umgu&#x0364;rtet, <note place="right">195</note><lb/>
Nahe liegt &#x017F;ie am Land'; und in der Mitte der In&#x017F;el<lb/>
Sah ich Rauch, der hinter dem dicken Gebu&#x0364;&#x017F;che hervor&#x017F;tieg.</p><lb/>
        <p>Al&#x017F;o &#x017F;prach ich; und ihnen brach das Herz vor Betru&#x0364;bniß,<lb/>
Da &#x017F;ie des Lai&#x017F;tru&#x0364;gonen Antifata&#x0364;s Thaten bedachten,<lb/>
Und des Ku&#x0364;klopen Gewalt, des grau&#x017F;amen Men&#x017F;chenfreßers. <note place="right">200</note><lb/>
Und &#x017F;ie weineten laut, und vergoßen ha&#x0364;ufige Thra&#x0364;nen.<lb/>
Aber &#x017F;ie konnten ja nichts mit ihrer Klage gewinnen.</p><lb/>
        <p>Jezo theilt' ich die Schaar der wohlgeharni&#x017F;chten Freunde<lb/>
In zween Haufen, und gab jedwedem einen Gebieter.<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[190/0196] Oduͤßee. Eßt nach Herzensbegier, damit uns der Hunger nicht toͤdte! Alſo ſprach ich; und ſchnell gehorchten ſie meinem Befehle, Kamen aus ihren Huͤllen, am Ufer des wuͤſten Meeres, Und verwunderten ſich des rieſenmaͤßigen Hirſches. Und nachdem ſie die Augen an ſeiner Groͤße geweidet, Wuſchen ſie ihre Haͤnde, das herliche Mahl zu bereiten. Alſo ſaßen wir dort den Tag, bis die Sonne ſich neigte, An der Fuͤlle des Fleiſches und ſuͤßen Weines uns labend. Als die Sonne nun ſank, und Dunkel die Erde bedeckte, Legten wir uns zum Schlummer am Strande des rauſchenden Meeres. Als die daͤmmernde Fruͤhe mit Roſenſingern erwachte, Rief ich alle Gefaͤhrten zur Rathsverſammlung, und ſagte: 180 185 Hoͤret jezo mich an, ihr meine Genoßen im Ungluͤck! Freunde, wir wißen ja nicht, wo Abend oder wo Morgen; Nicht, wo die leuchtende Sonne ſich unter die Erde hinabſenkt, Noch, wo ſie wiederkehrt: drum muͤßen wir ſchnell uns bedenken, Iſt noch irgend ein Rath; ich ſehe keinen mehr uͤbrig. Denn ich umſchauete dort von der Hoͤhe des zackichten Felſens Dieſe Inſel, die rings das unendliche Meer umguͤrtet, Nahe liegt ſie am Land'; und in der Mitte der Inſel Sah ich Rauch, der hinter dem dicken Gebuͤſche hervorſtieg. 190 195 Alſo ſprach ich; und ihnen brach das Herz vor Betruͤbniß, Da ſie des Laiſtruͤgonen Antifataͤs Thaten bedachten, Und des Kuͤklopen Gewalt, des grauſamen Menſchenfreßers. Und ſie weineten laut, und vergoßen haͤufige Thraͤnen. Aber ſie konnten ja nichts mit ihrer Klage gewinnen. 200 Jezo theilt' ich die Schaar der wohlgeharniſchten Freunde In zween Haufen, und gab jedwedem einen Gebieter.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781/196
Zitationshilfe: Homerus: Odüssee übersezt von Johann Heinrich Voß. Hamburg, 1781, S. 190. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781/196>, abgerufen am 21.11.2024.