pwa_082.001 zu erkennen suchen; sie wird auch ihm Anfang und Ende sowohl pwa_082.002 seiner eignen Production sein als der Reproduction, die er auf Seiten pwa_082.003 des Lesers bezweckt: aber, und darin beruht nun der grosse Unterschied, pwa_082.004 er sucht und sieht ihre Offenbarung nicht im Schönen, sondern pwa_082.005 im Wahren; er betrachtet die historischen Thatsachen, über pwa_082.006 denen sie schwebt, vom Gebiete des Verstandes her, nicht von dem pwa_082.007 der Einbildung; er verschmäht alles Zuthun der Phantasie und duldet pwa_082.008 nur die Dienste der Erinnerung, die so vereinzelt der verständigen pwa_082.009 Erkenntniss unschädlich ist; er verwirft keine Thatsache, selbst wenn pwa_082.010 sie die Idee verdunkeln sollte, deshalb, weil sie diess thut; er erfindet pwa_082.011 keine, damit sie die Idee in ein helleres Licht setze: da braucht er pwa_082.012 auch nichts umzugestalten, sondern er gestaltet und bildet nur nach, pwa_082.013 was er vorfindet, und eh er es nachbildet, prüft er, ob er auch das pwa_082.014 Wahre vorgefunden habe. Aber wie gesagt, bei all dieser resignierenden pwa_082.015 Treue, all diesem rein verständigen Forschen wird er niemals die pwa_082.016 Idee aus dem Auge verlieren: er wird sich fort und fort wenigstens pwa_082.017 bemühen, sie mit der unverkürzten Wahrheit zu vereinbaren, sie als pwa_082.018 den Keim jeder Thatsache, jede Thatsache als ihre Frucht zu erkennen pwa_082.019 und so die Reihe der Ereignisse, die er vorführt, zu einem pwa_082.020 Organismus zu verketten, der durch die Einheit einer inneren Nothwendigkeit pwa_082.021 zusammengehalten und beseelt sei und erst mit Vollendung pwa_082.022 der Idee selber ende. Ein solches Verfahren ist es allein, das den pwa_082.023 vielfach missbrauchten Namen pragmatischer Geschichtsschreibung in pwa_082.024 Anspruch nehmen darf, insofern pragma nicht jedwedes bezeichnet, pwa_082.025 das geschieht, sondern etwas, das geschieht, weil es geschehen muss, pwa_082.026 und das wirksam ist, weil es geschieht, die volle Wirksamkeit aber pwa_082.027 und die wahre Nothwendigkeit sich immer nur vom Standpuncte der pwa_082.028 Idee aus ergeben können. Der Historiker bemüht sich also, die wirkende pwa_082.029 Idee durch unverkürzte Wahrhaftigkeit der berichteten Thatsachen pwa_082.030 zur Erscheinung zu bringen: aber nur zu oft ist diese Bemühung pwa_082.031 eine fruchtlose; nur zu oft erweist sich ihm, sobald er mit den Erfahrungen pwa_082.032 und Urtheilen des Verstandes sich begnügen will, statt jenes pwa_082.033 organischen, bloss ein mechanischer Zusammenhang; nur zu oft nicht pwa_082.034 einmal dieser. Und dennoch darf er, wenn er gewissenhaft ist, die pwa_082.035 Grenzen nicht überschreiten, innerhalb welcher ihm die Dinge so abgerissen, pwa_082.036 so ohne Leben und Bedeutung erscheinen. Da zeigt sich denn pwa_082.037 am herbsten und schärfsten der Contrast zwischen Geschichte und Sage, pwa_082.038 das Unkünstlerische, das verglichen mit den Anschauungen der erzählenden pwa_082.039 Dichtkunst denen der historisch erzählenden Prosa beiwohnt: pwa_082.040 denn die Sage würde mit der Kühnheit der schöpferischen Phantasie pwa_082.041 jene der Idee widerstreitenden Einzelheiten entweder ganz beseitigen
pwa_082.001 zu erkennen suchen; sie wird auch ihm Anfang und Ende sowohl pwa_082.002 seiner eignen Production sein als der Reproduction, die er auf Seiten pwa_082.003 des Lesers bezweckt: aber, und darin beruht nun der grosse Unterschied, pwa_082.004 er sucht und sieht ihre Offenbarung nicht im Schönen, sondern pwa_082.005 im Wahren; er betrachtet die historischen Thatsachen, über pwa_082.006 denen sie schwebt, vom Gebiete des Verstandes her, nicht von dem pwa_082.007 der Einbildung; er verschmäht alles Zuthun der Phantasie und duldet pwa_082.008 nur die Dienste der Erinnerung, die so vereinzelt der verständigen pwa_082.009 Erkenntniss unschädlich ist; er verwirft keine Thatsache, selbst wenn pwa_082.010 sie die Idee verdunkeln sollte, deshalb, weil sie diess thut; er erfindet pwa_082.011 keine, damit sie die Idee in ein helleres Licht setze: da braucht er pwa_082.012 auch nichts umzugestalten, sondern er gestaltet und bildet nur nach, pwa_082.013 was er vorfindet, und eh er es nachbildet, prüft er, ob er auch das pwa_082.014 Wahre vorgefunden habe. Aber wie gesagt, bei all dieser resignierenden pwa_082.015 Treue, all diesem rein verständigen Forschen wird er niemals die pwa_082.016 Idee aus dem Auge verlieren: er wird sich fort und fort wenigstens pwa_082.017 bemühen, sie mit der unverkürzten Wahrheit zu vereinbaren, sie als pwa_082.018 den Keim jeder Thatsache, jede Thatsache als ihre Frucht zu erkennen pwa_082.019 und so die Reihe der Ereignisse, die er vorführt, zu einem pwa_082.020 Organismus zu verketten, der durch die Einheit einer inneren Nothwendigkeit pwa_082.021 zusammengehalten und beseelt sei und erst mit Vollendung pwa_082.022 der Idee selber ende. Ein solches Verfahren ist es allein, das den pwa_082.023 vielfach missbrauchten Namen pragmatischer Geschichtsschreibung in pwa_082.024 Anspruch nehmen darf, insofern πρᾶγμα nicht jedwedes bezeichnet, pwa_082.025 das geschieht, sondern etwas, das geschieht, weil es geschehen muss, pwa_082.026 und das wirksam ist, weil es geschieht, die volle Wirksamkeit aber pwa_082.027 und die wahre Nothwendigkeit sich immer nur vom Standpuncte der pwa_082.028 Idee aus ergeben können. Der Historiker bemüht sich also, die wirkende pwa_082.029 Idee durch unverkürzte Wahrhaftigkeit der berichteten Thatsachen pwa_082.030 zur Erscheinung zu bringen: aber nur zu oft ist diese Bemühung pwa_082.031 eine fruchtlose; nur zu oft erweist sich ihm, sobald er mit den Erfahrungen pwa_082.032 und Urtheilen des Verstandes sich begnügen will, statt jenes pwa_082.033 organischen, bloss ein mechanischer Zusammenhang; nur zu oft nicht pwa_082.034 einmal dieser. Und dennoch darf er, wenn er gewissenhaft ist, die pwa_082.035 Grenzen nicht überschreiten, innerhalb welcher ihm die Dinge so abgerissen, pwa_082.036 so ohne Leben und Bedeutung erscheinen. Da zeigt sich denn pwa_082.037 am herbsten und schärfsten der Contrast zwischen Geschichte und Sage, pwa_082.038 das Unkünstlerische, das verglichen mit den Anschauungen der erzählenden pwa_082.039 Dichtkunst denen der historisch erzählenden Prosa beiwohnt: pwa_082.040 denn die Sage würde mit der Kühnheit der schöpferischen Phantasie pwa_082.041 jene der Idee widerstreitenden Einzelheiten entweder ganz beseitigen
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Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873, S. 82. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wackernagel_poetik_1873/100>, abgerufen am 24.11.2024.
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