Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_083.001 pwa_083.003 pwa_083.010 pwa_083.032 pwa_083.001 pwa_083.003 pwa_083.010 pwa_083.032 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0101" n="83"/><lb n="pwa_083.001"/> oder unter ihnen den Zusammenhang herzustellen wissen, den der <lb n="pwa_083.002"/> Verstand nicht zu erkennen vermag.</p> <p><lb n="pwa_083.003"/> Nachdem wir die Epopöie in dem Stufengange ihrer Bildung <lb n="pwa_083.004"/> historisch entwickelt haben, wird es zweckdienlich sein, einen Blick <lb n="pwa_083.005"/> auf das Wesen und die eigenthümlichen Gesetze derselben zu werfen, <lb n="pwa_083.006"/> und was sich in Beziehung darauf aus dem bisher Dargestellten ergiebt, <lb n="pwa_083.007"/> dogmatisch zusammenzufassen. Wir unterscheiden hier, wie schon <lb n="pwa_083.008"/> früherhin zwischen Epopöie im engern Sinne des Wortes und der <lb n="pwa_083.009"/> s. g. Erzählung.</p> <p><lb n="pwa_083.010"/> Die Epopöie fasst gleich dem epischen Liede die Geschichte <lb n="pwa_083.011"/> nicht historiographisch, sondern mythisch oder sagenhaft, weil es ihr <lb n="pwa_083.012"/> auf die göttliche Idee, und nicht auf Wahrheit, sondern zunächst <lb n="pwa_083.013"/> auf Schönheit ankommt. Während jedoch das Lied auf Eine Begebenheit <lb n="pwa_083.014"/> gerichtet ist, Einen Mythus, Eine Sage darstellt, umfasst <lb n="pwa_083.015"/> die Epopöie eine Reihe von Begebenheiten, breitet sich über einen <lb n="pwa_083.016"/> ganzen Sagenkreis aus. Dabei darf jedoch die Einheit nicht verloren <lb n="pwa_083.017"/> gehn, das Grundgesetz aller künstlerischen Production. Es muss also <lb n="pwa_083.018"/> vor allen Dingen Einheit des geschichtlichen Verlaufes stattfinden: die <lb n="pwa_083.019"/> einzelnen Begebenheiten müssen nicht nur in einem fortlaufenden causalen <lb n="pwa_083.020"/> Zusammenhange, sondern sie müssen auch alle in wirksamer <lb n="pwa_083.021"/> Beziehung auf die belebende centrale Idee stehn; das Gedicht muss <lb n="pwa_083.022"/> mit Thatsachen beginnen, die schon auf die Vollendung der Idee hinarbeiten, <lb n="pwa_083.023"/> muss schliessen, wenn dieselbe vollendet ist, und muss innerhalb <lb n="pwa_083.024"/> nichts enthalten, was nicht als Glied an diesem idealen Organismus <lb n="pwa_083.025"/> thätig sein könnte. Nur so sind Episoden erlaubt: sie mögen <lb n="pwa_083.026"/> die gradaus gestreckte Linie der Begebenheiten unterbrechen: aber sie <lb n="pwa_083.027"/> müssen innerhalb des Kreises liegen, den die Idee beherrscht; es ist <lb n="pwa_083.028"/> sogar ihr Hauptzweck, indem sie jene grade Linie verkürzen, die <lb n="pwa_083.029"/> Ueberschaulichkeit des Verlaufes zu erleichtern und die Einheit der <lb n="pwa_083.030"/> Handlung durch scheinbare Einfachheit noch mehr herauszustellen, wie <lb n="pwa_083.031"/> diess z. B. in der Odyssee (Buch 9 f.) geschieht.</p> <p><lb n="pwa_083.032"/> Verbunden mit der Einheit des geschichtlichen Verlaufes und das <lb n="pwa_083.033"/> beste, wenn auch nicht das einzig mögliche Mittel, sie zu behaupten, <lb n="pwa_083.034"/> ist die Einheit der Person, d. h. dass von Anfang bis zu Ende Eine <lb n="pwa_083.035"/> Person als die hauptsächliche da stehe, als diejenige, auf deren <lb n="pwa_083.036"/> Geschick in Freude oder Leid alle Begebenheiten sich beziehen. So <lb n="pwa_083.037"/> findet die ganze reiche Mannigfaltigkeit der Thatsachen gegenüber der <lb n="pwa_083.038"/> innern idealen Einheit auch eine äussere, und eine wird durch die <lb n="pwa_083.039"/> andre um so besser gesichert sein. Die Odyssee und das Nibelungenlied <lb n="pwa_083.040"/> können auch hier als Beispiel gelten. Nothwendig ist diese Einheit <lb n="pwa_083.041"/> aber nicht: es liesse sich eine Epopöie über den trojanischen </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [83/0101]
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oder unter ihnen den Zusammenhang herzustellen wissen, den der pwa_083.002
Verstand nicht zu erkennen vermag.
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Nachdem wir die Epopöie in dem Stufengange ihrer Bildung pwa_083.004
historisch entwickelt haben, wird es zweckdienlich sein, einen Blick pwa_083.005
auf das Wesen und die eigenthümlichen Gesetze derselben zu werfen, pwa_083.006
und was sich in Beziehung darauf aus dem bisher Dargestellten ergiebt, pwa_083.007
dogmatisch zusammenzufassen. Wir unterscheiden hier, wie schon pwa_083.008
früherhin zwischen Epopöie im engern Sinne des Wortes und der pwa_083.009
s. g. Erzählung.
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Die Epopöie fasst gleich dem epischen Liede die Geschichte pwa_083.011
nicht historiographisch, sondern mythisch oder sagenhaft, weil es ihr pwa_083.012
auf die göttliche Idee, und nicht auf Wahrheit, sondern zunächst pwa_083.013
auf Schönheit ankommt. Während jedoch das Lied auf Eine Begebenheit pwa_083.014
gerichtet ist, Einen Mythus, Eine Sage darstellt, umfasst pwa_083.015
die Epopöie eine Reihe von Begebenheiten, breitet sich über einen pwa_083.016
ganzen Sagenkreis aus. Dabei darf jedoch die Einheit nicht verloren pwa_083.017
gehn, das Grundgesetz aller künstlerischen Production. Es muss also pwa_083.018
vor allen Dingen Einheit des geschichtlichen Verlaufes stattfinden: die pwa_083.019
einzelnen Begebenheiten müssen nicht nur in einem fortlaufenden causalen pwa_083.020
Zusammenhange, sondern sie müssen auch alle in wirksamer pwa_083.021
Beziehung auf die belebende centrale Idee stehn; das Gedicht muss pwa_083.022
mit Thatsachen beginnen, die schon auf die Vollendung der Idee hinarbeiten, pwa_083.023
muss schliessen, wenn dieselbe vollendet ist, und muss innerhalb pwa_083.024
nichts enthalten, was nicht als Glied an diesem idealen Organismus pwa_083.025
thätig sein könnte. Nur so sind Episoden erlaubt: sie mögen pwa_083.026
die gradaus gestreckte Linie der Begebenheiten unterbrechen: aber sie pwa_083.027
müssen innerhalb des Kreises liegen, den die Idee beherrscht; es ist pwa_083.028
sogar ihr Hauptzweck, indem sie jene grade Linie verkürzen, die pwa_083.029
Ueberschaulichkeit des Verlaufes zu erleichtern und die Einheit der pwa_083.030
Handlung durch scheinbare Einfachheit noch mehr herauszustellen, wie pwa_083.031
diess z. B. in der Odyssee (Buch 9 f.) geschieht.
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Verbunden mit der Einheit des geschichtlichen Verlaufes und das pwa_083.033
beste, wenn auch nicht das einzig mögliche Mittel, sie zu behaupten, pwa_083.034
ist die Einheit der Person, d. h. dass von Anfang bis zu Ende Eine pwa_083.035
Person als die hauptsächliche da stehe, als diejenige, auf deren pwa_083.036
Geschick in Freude oder Leid alle Begebenheiten sich beziehen. So pwa_083.037
findet die ganze reiche Mannigfaltigkeit der Thatsachen gegenüber der pwa_083.038
innern idealen Einheit auch eine äussere, und eine wird durch die pwa_083.039
andre um so besser gesichert sein. Die Odyssee und das Nibelungenlied pwa_083.040
können auch hier als Beispiel gelten. Nothwendig ist diese Einheit pwa_083.041
aber nicht: es liesse sich eine Epopöie über den trojanischen
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