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Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873

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ist es, bei jeder zu verweilen und dem Leser Zeit zu gönnen, pwa_085.002
dass er dieselbe klar und fest in seinem Innern nachbilde: geht pwa_085.003
die Darstellung zu schnell über die Einzelheiten hin, so bringt er es pwa_085.004
zu keiner zusammenhangenden einheitlichen Reproduction des Ganzen. pwa_085.005
Es wird also Ausführlichkeit, es wird eine freilich gemessene Breite pwa_085.006
verlangt; es kann die eigentliche Erzählung um der Anschaulichkeit pwa_085.007
willen sogar in die Schilderung hinüberstreifen: nur dass auch die pwa_085.008
Schilderung den Anschein der Erzählung trage, dass sie historisch pwa_085.009
eingekleidet werde, dass sie keine ruhig fixierende sei: denn im Stillstand pwa_085.010
liegt die anschaulich machende Breite nicht, nur im zögernden, pwa_085.011
langsameren Fortschritt.

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Sodann hat der epische Dichter zum Behuf eben dieser Reproduction pwa_085.013
seines reichen Stoffes nach möglichst grosser Objectivität zu pwa_085.014
trachten: er soll ja keine Schilderung seiner innern Zustände geben, pwa_085.015
er soll Thatsachen der Aussenwelt erzählen: diese verlieren aber an pwa_085.016
objectiver Anschaulichkeit in demselben Grade, als er mit seinen pwa_085.017
subjectiven Gefühlen und Urtheilen sich störend einmischt: wer steht pwa_085.018
ihm auch dafür, dass seine Gefühle und Urtheile ebenfalls die des pwa_085.019
Lesers sein werden? Ganz zu vermeiden ist die Subjectivität freilich pwa_085.020
nicht, wo das Individuum dichtet und nicht mehr die ganze Nation: pwa_085.021
aber sie soll nur in so weit vorkommen, als sie nicht zu vermeiden pwa_085.022
ist. Deshalb ist es auch in der Epopöie nirgend recht an der Stelle, pwa_085.023
dass die Einbildungskraft, dieses Organ der objectiven Anschauung, pwa_085.024
in Widerspruch gerathe mit Gefühl und Verstand, dass der Dichter, pwa_085.025
was er erzählt, mit Laune und Spott erzähle, dass er lächerliche pwa_085.026
Begebenheiten vorführe, ausgenommen wenn dieser Widerspruch durch pwa_085.027
den weiteren Zusammenhang aufgehoben und ausgeglichen wird; und pwa_085.028
auch dann darf das Lächerliche immer nur leise, nur behutsam und pwa_085.029
bescheiden angedeutet sein: sonst stört es gleichwohl die Reproduction. pwa_085.030
Ein schönes Beispiel von schonender und enthaltsamer Einmischung pwa_085.031
des Lächerlichen ist in den Nibelungen jene Stelle (Str. 588), wo pwa_085.032
Gunther von Brunhilden an den Nagel gehängt wird: das Ereigniss pwa_085.033
gehört nothwendig dahin, um die Persönlichkeit Brunhildens und Gunthers pwa_085.034
und Siegfrieds zur Anschauung zu bringen; innerhalb des weitern pwa_085.035
Verlaufes hat es auch nichts Lächerliches mehr: aber der Dichter pwa_085.036
gestattet sichs nicht einmal vorübergehend, seinem Leser ein spöttisches pwa_085.037
und schadenfrohes Gelächter aufzudringen. Viel bedenklicher ist pwa_085.038
eine Persönlichkeit im zweiten Buch der Ilias, Thersites; der Streit pwa_085.039
der Kunstrichter für und wider seine poetische Zulässlichkeit ist auch pwa_085.040
immer noch unentschieden: allerdings kommt hier zu der Lächerlichkeit pwa_085.041
noch die Hässlichkeit, ja sogar das Ekelhafte, und es ist

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ist es, bei jeder zu verweilen und dem Leser Zeit zu gönnen, pwa_085.002
dass er dieselbe klar und fest in seinem Innern nachbilde: geht pwa_085.003
die Darstellung zu schnell über die Einzelheiten hin, so bringt er es pwa_085.004
zu keiner zusammenhangenden einheitlichen Reproduction des Ganzen. pwa_085.005
Es wird also Ausführlichkeit, es wird eine freilich gemessene Breite pwa_085.006
verlangt; es kann die eigentliche Erzählung um der Anschaulichkeit pwa_085.007
willen sogar in die Schilderung hinüberstreifen: nur dass auch die pwa_085.008
Schilderung den Anschein der Erzählung trage, dass sie historisch pwa_085.009
eingekleidet werde, dass sie keine ruhig fixierende sei: denn im Stillstand pwa_085.010
liegt die anschaulich machende Breite nicht, nur im zögernden, pwa_085.011
langsameren Fortschritt.

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Sodann hat der epische Dichter zum Behuf eben dieser Reproduction pwa_085.013
seines reichen Stoffes nach möglichst grosser Objectivität zu pwa_085.014
trachten: er soll ja keine Schilderung seiner innern Zustände geben, pwa_085.015
er soll Thatsachen der Aussenwelt erzählen: diese verlieren aber an pwa_085.016
objectiver Anschaulichkeit in demselben Grade, als er mit seinen pwa_085.017
subjectiven Gefühlen und Urtheilen sich störend einmischt: wer steht pwa_085.018
ihm auch dafür, dass seine Gefühle und Urtheile ebenfalls die des pwa_085.019
Lesers sein werden? Ganz zu vermeiden ist die Subjectivität freilich pwa_085.020
nicht, wo das Individuum dichtet und nicht mehr die ganze Nation: pwa_085.021
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ist. Deshalb ist es auch in der Epopöie nirgend recht an der Stelle, pwa_085.023
dass die Einbildungskraft, dieses Organ der objectiven Anschauung, pwa_085.024
in Widerspruch gerathe mit Gefühl und Verstand, dass der Dichter, pwa_085.025
was er erzählt, mit Laune und Spott erzähle, dass er lächerliche pwa_085.026
Begebenheiten vorführe, ausgenommen wenn dieser Widerspruch durch pwa_085.027
den weiteren Zusammenhang aufgehoben und ausgeglichen wird; und pwa_085.028
auch dann darf das Lächerliche immer nur leise, nur behutsam und pwa_085.029
bescheiden angedeutet sein: sonst stört es gleichwohl die Reproduction. pwa_085.030
Ein schönes Beispiel von schonender und enthaltsamer Einmischung pwa_085.031
des Lächerlichen ist in den Nibelungen jene Stelle (Str. 588), wo pwa_085.032
Gunther von Brunhilden an den Nagel gehängt wird: das Ereigniss pwa_085.033
gehört nothwendig dahin, um die Persönlichkeit Brunhildens und Gunthers pwa_085.034
und Siegfrieds zur Anschauung zu bringen; innerhalb des weitern pwa_085.035
Verlaufes hat es auch nichts Lächerliches mehr: aber der Dichter pwa_085.036
gestattet sichs nicht einmal vorübergehend, seinem Leser ein spöttisches pwa_085.037
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Zitationshilfe: Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873, S. 85. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wackernagel_poetik_1873/103>, abgerufen am 24.11.2024.