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Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873

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aller Kunst, die Reproduction, selbst vernichtet, haben in ihre Dichtungen pwa_088.002
nur ein halbes Leben und selbst den Keim des Todes gelegt. pwa_088.003
Die einzige Mythologie, deren Gebrauch jetzt noch dem Epiker verstattet pwa_088.004
ist, weil er bei ihr allein noch auf Reproduction rechnen darf, pwa_088.005
ist die christliche Mythologie, wie die Legende sie gewährt. Zwar pwa_088.006
findet auch diese nicht bei allen Confessionen den gleichen Glauben: pwa_088.007
aber doch liegt dem Protestanten ein Mythus der Katholiken nicht so pwa_088.008
fern, als dem Christen ein Mythus der Heiden liegt; hat für ihn die pwa_088.009
Legende auch keine Wirklichkeit, so hat sie doch, da ja die Katholiken pwa_088.010
nicht minder Christen sind, die Möglichkeit derselben; und so pwa_088.011
wird er sich gern zur Reproduction verstehn. Es ist in Herders Cid pwa_088.012
schwerlich für irgend Jemand störend, dass, wie im spanischen Original, pwa_088.013
so nun auch in dieser deutschen Nachbildung, die Apostel Petrus pwa_088.014
und Jacobus auf wunderbare Weise in die Handlung eingreifen: ein pwa_088.015
etwas älterer Dichter würde vielleicht die Genien des Ruhms und der pwa_088.016
Tapferkeit, ein noch älterer diese und jene griechische oder römische pwa_088.017
Gottheit an ihre Stelle gesetzt und damit alle Poesie über den Haufen pwa_088.018
geworfen haben.

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Es ist aber nicht bloss der Gebrauch der Mythologie, worin unser pwa_088.020
Epos so beschränkt ist. Was noch mehr bedeutet, auch das Gebiet pwa_088.021
der Sage ist ihm benommen. Denn wir haben keinen Sagenkreis pwa_088.022
mehr, über den hin sich das Epos breit und ruhig lagern könnte: wir pwa_088.023
haben nur noch vereinzelte Sagen, die vielleicht eine Ballade, niemals pwa_088.024
aber ein Epos füllen. Was ist da nun zu thun? Ein Zurückwandern pwa_088.025
aus allen Bedingungen der Gegenwart auf den in Zeit und Raum und pwa_088.026
Nationalität entlegenen Boden, der die Epopöien des Alterthums und pwa_088.027
des Mittelalters trägt, ist freilich schon öfters versucht worden, z. B. pwa_088.028
von Rückert in Nal und Damajanti, in Rostem und Suhrab, von Simrock pwa_088.029
in Wieland dem Schmied, hat aber auch jedesmal in die Irre pwa_088.030
geführt: denn je epischer, also je objectiver nun der Dichter seinen pwa_088.031
Stoff anschaut und darstellt, desto fremdartiger wird er für uns; desto pwa_088.032
mehr fühlen wir, wie aller Zusammenhang zwischen jener Zeit und pwa_088.033
der unsrigen, zwischen jenem Volk und dem unsrigen abgeschnitten pwa_088.034
sei; desto mehr gewahren wir, wie wir den Weg in jene Welt nur pwa_088.035
noch an der Hand der Gelehrsamkeit, nicht aber an der Hand der pwa_088.036
Poesie mehr finden können; desto weniger sind wir im Stande, die pwa_088.037
Productionen des Dichters zu reproducieren. Da wir also selbst keinen pwa_088.038
Sagenkreis mehr besitzen, die alten und fremden Sagen aber für pwa_088.039
uns unwirklich sind, so bleibt uns nur noch die Geschichte und die pwa_088.040
Erfindung, d. h. unsre Epopöie ist aus dem alten Erblande exiliert pwa_088.041
und in Länder verwiesen, welche die alte Epopöie niemals betreten

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aller Kunst, die Reproduction, selbst vernichtet, haben in ihre Dichtungen pwa_088.002
nur ein halbes Leben und selbst den Keim des Todes gelegt. pwa_088.003
Die einzige Mythologie, deren Gebrauch jetzt noch dem Epiker verstattet pwa_088.004
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ist die christliche Mythologie, wie die Legende sie gewährt. Zwar pwa_088.006
findet auch diese nicht bei allen Confessionen den gleichen Glauben: pwa_088.007
aber doch liegt dem Protestanten ein Mythus der Katholiken nicht so pwa_088.008
fern, als dem Christen ein Mythus der Heiden liegt; hat für ihn die pwa_088.009
Legende auch keine Wirklichkeit, so hat sie doch, da ja die Katholiken pwa_088.010
nicht minder Christen sind, die Möglichkeit derselben; und so pwa_088.011
wird er sich gern zur Reproduction verstehn. Es ist in Herders Cid pwa_088.012
schwerlich für irgend Jemand störend, dass, wie im spanischen Original, pwa_088.013
so nun auch in dieser deutschen Nachbildung, die Apostel Petrus pwa_088.014
und Jacobus auf wunderbare Weise in die Handlung eingreifen: ein pwa_088.015
etwas älterer Dichter würde vielleicht die Genien des Ruhms und der pwa_088.016
Tapferkeit, ein noch älterer diese und jene griechische oder römische pwa_088.017
Gottheit an ihre Stelle gesetzt und damit alle Poesie über den Haufen pwa_088.018
geworfen haben.

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Es ist aber nicht bloss der Gebrauch der Mythologie, worin unser pwa_088.020
Epos so beschränkt ist. Was noch mehr bedeutet, auch das Gebiet pwa_088.021
der Sage ist ihm benommen. Denn wir haben keinen Sagenkreis pwa_088.022
mehr, über den hin sich das Epos breit und ruhig lagern könnte: wir pwa_088.023
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aus allen Bedingungen der Gegenwart auf den in Zeit und Raum und pwa_088.026
Nationalität entlegenen Boden, der die Epopöien des Alterthums und pwa_088.027
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von Rückert in Nal und Damajanti, in Rostem und Suhrab, von Simrock pwa_088.029
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Stoff anschaut und darstellt, desto fremdartiger wird er für uns; desto pwa_088.032
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Sagenkreis mehr besitzen, die alten und fremden Sagen aber für pwa_088.039
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Zitationshilfe: Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873, S. 88. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wackernagel_poetik_1873/106>, abgerufen am 21.11.2024.