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Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873

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als Norm und Vorbild vor Augen gehabt. So bleibt in Bezug auf sie pwa_087.002
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Die alten Epiker, die sich überall an die Sage anlehnen, mischen pwa_087.005
bei der engen Verkettung von Sage und Mythus überall auch die pwa_087.006
Mythologie in ihre Dichtungen ein: bei Homer, wie nach ihm bei pwa_087.007
Virgil nehmen die Götter ihren Antheil an der Handlung, und auch pwa_087.008
in den Epen des Mittelalters fehlt es nicht an der Einwirkung solcher pwa_087.009
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Mythologie. So finden wir z. B. im Nibelungenlied pwa_087.011
Zwerge, Riesen und Nixen. Nach diesem Beispiel haben es denn pwa_087.012
auch die neuern Epiker für ihre Pflicht gehalten, den Raum über und pwa_087.013
unter dem Boden, auf welchem ihre Darstellung sich bewegt, mit pwa_087.014
übermenschlichen und göttlichen Wesen zu bevölkern: entweder sind pwa_087.015
es solche, die sie aus dem alten Heidenthum und Aberglauben herübernahmen, pwa_087.016
wie die Epiker des siebzehnten Jahrhunderts griechische pwa_087.017
Götter und Göttinnen, und neuere, wie Wieland, Feen und Elfen; oder pwa_087.018
solche, die sie selber erst erfanden, wie Milton im verlorenen Paradies pwa_087.019
und nach ihm Klopstock im Messias Engel und Teufel, die ohne alle pwa_087.020
biblische und kirchliche Autorität nach Rang und Stand geordnet und pwa_087.021
jeder eigens benannt sind, oder wie Voltaire in der Henriade und pwa_087.022
Andre personificierte Tugenden und Laster. Sie meinten, dergleichen pwa_087.023
gehöre zum Epos, sie meinten es darin ihren Vorbildern gleich zu pwa_087.024
thun: aber wie ungehörig war das vielmehr Alles, und wie sehr musste pwa_087.025
es ihren Schöpfungen schaden! Wenn die Dichter des Mittelalters von pwa_087.026
Feen, Griechen und Römer von Göttern erzählten, so fanden sie den pwa_087.027
Glauben daran bei ihren Lesern vor; so waren das Gestalten, die für pwa_087.028
diese von vorn herein lebendige Wirklichkeit besassen, und die deshalb pwa_087.029
eben so leicht in die Reproduction übergiengen als die Menschen, pwa_087.030
auf deren Geschick jene göttlichen Wesen hilfreich oder feindselig einwirkten. pwa_087.031
Ganz anders aber steht es bei uns: wir glauben nicht mehr pwa_087.032
an Feen und Elfen; an Jupiter und Juno haben wir niemals geglaubt; pwa_087.033
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wen irgend einmal eine Wirklichkeit gewesen; an einer uns aufgedrungenen pwa_087.035
Hierarchie von Engeln und einer Monarchie von Teufeln pwa_087.036
nehmen wir billigerweise Anstoss. Und dennoch sollen wir dem pwa_087.037
Dichter reproducierend entgegen kommen; wir sollen Anschauungen, pwa_087.038
die für uns keine Wirklichkeit besitzen und auch keine besitzen können pwa_087.039
und dürfen, wir sollen Fictionen, an die er selber kaum oder gar pwa_087.040
nie geglaubt hat, dennoch in uns eine Wirklichkeit geben. So haben pwa_087.041
jene Dichter in der besten Absicht von vorn herein Ziel und Zweck

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als Norm und Vorbild vor Augen gehabt. So bleibt in Bezug auf sie pwa_087.002
eigentlich nur die Frage, ob sie jene Gesetze richtig verstanden und pwa_087.003
richtig angewendet und die Muster richtig nachgebildet haben.

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Die alten Epiker, die sich überall an die Sage anlehnen, mischen pwa_087.005
bei der engen Verkettung von Sage und Mythus überall auch die pwa_087.006
Mythologie in ihre Dichtungen ein: bei Homer, wie nach ihm bei pwa_087.007
Virgil nehmen die Götter ihren Antheil an der Handlung, und auch pwa_087.008
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Mythologie. So finden wir z. B. im Nibelungenlied pwa_087.011
Zwerge, Riesen und Nixen. Nach diesem Beispiel haben es denn pwa_087.012
auch die neuern Epiker für ihre Pflicht gehalten, den Raum über und pwa_087.013
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übermenschlichen und göttlichen Wesen zu bevölkern: entweder sind pwa_087.015
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Götter und Göttinnen, und neuere, wie Wieland, Feen und Elfen; oder pwa_087.018
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biblische und kirchliche Autorität nach Rang und Stand geordnet und pwa_087.021
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Glauben daran bei ihren Lesern vor; so waren das Gestalten, die für pwa_087.028
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Ganz anders aber steht es bei uns: wir glauben nicht mehr pwa_087.032
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Zitationshilfe: Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873, S. 87. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wackernagel_poetik_1873/105>, abgerufen am 21.11.2024.