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Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873

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unter dem Volke vor dem Heiligthum her: 2 Sam. 6, 14 = 1 Chron. pwa_094.002
16, 29. Auch Judith 15. 16 kann hier als Beleg angeführt werden.

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Wir stellen neben die Poesie des Alterthums die der modernen pwa_094.004
Völker. Da sehen wir noch deutlicher als dort, wie eng und unmittelbar pwa_094.005
sich die lyrische Epik an den alten epischen Gesang anschliesse, pwa_094.006
und wie damit ein nur halber Schritt vorwärts gethan sei nach der pwa_094.007
eigentlichen Lyrik hin. Es giebt noch jetzo Völker, die immer noch pwa_094.008
nicht über diesen halben Schritt hinaus gekommen sind, die immer pwa_094.009
noch keine eigentliche Lyrik besitzen, sondern nur epische und pwa_094.010
lyrisch-epische Lieder: epische, welche sich bloss auf äussere pwa_094.011
Thatsachen richten; lyrisch-epische, welche die äusseren Thatsachen pwa_094.012
mehr nur als Motiv und Fundament für die Darlegung innerer Zustände pwa_094.013
gebrauchen, in welchen der epische Stoff wohl sogar erst pwa_094.014
erfunden wird, um einen Anknüpfungspunkt für die lyrische Empfindung pwa_094.015
zu gewähren. Solche Völker sind namentlich die Littauer und pwa_094.016
die Serben. Und zwar haben die Serben schon mehr dergleichen pwa_094.017
lyrisch-epische Dichtungen als die Littauer, weil sie in der Civilisation pwa_094.018
schon etwas weiter vorgeschritten sind, während die Littauer pwa_094.019
durch ihren geringeren Grad von Bildung mehr auf der alten bloss pwa_094.020
epischen Stufe zurückgehalten werden. Aber des epischen Grundes pwa_094.021
können auch die Serben noch immer nicht entbehren: z. B. rein lyrische pwa_094.022
Liebeslieder findet man da nirgend, sondern es wird etwa von pwa_094.023
zwei Liebenden erzählt; die Erzählung mag sich auf eine einzige pwa_094.024
epische Situation einschränken ohne weiter ausgedehnten Verlauf: aber pwa_094.025
wenigstens eine epische Situation muss vorhanden sein, und daran pwa_094.026
erst entfaltet sich die Anschauung und Darlegung innerer Zustände; pwa_094.027
jedoch nicht in lyrischer, sondern selbst diese immer noch in einer pwa_094.028
gewissen epischen Haltung, z. B. in Gesprächsform. So sehen die pwa_094.029
lyrisch-epischen Lieder der Serben oft nur aus wie Trümmer und pwa_094.030
Bruchstücke grösserer, mehr ausgeführter epischer Gesänge, nur dass pwa_094.031
in ihnen die innern Zustände auf eine Weise berücksichtigt und hervorgehoben pwa_094.032
sind, von der das reine Epos nichts weiss1.

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Bei uns Deutschen ist die lyrisch-epische Dichtung durch zweimalige pwa_094.034
Wiederholung ähnlicher Umstände auch in zwei verschiedenen pwa_094.035
Epochen aus dem Epos hervorgegangen. Zuerst im zwölften Jahrhundert, pwa_094.036
als der altepische Gesang entschwand, und die Epopöie an pwa_094.037
seine Stelle rückte: da begann sich neben dieser Epik der Einbildung

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Beispiele bieten die Dainos oder littauischen Volkslieder, gesammelt, pwa_094.039
übersetzt und herausgegeben von L. J. Rhesa (Neue Auflage. Berlin 1843) S. 48. pwa_094.040
145 und die Volkslieder der Serben, metrisch übersetzt von Talvj 1, 38. 67; pwa_094.041
2, 14. 68.

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unter dem Volke vor dem Heiligthum her: 2 Sam. 6, 14 = 1 Chron. pwa_094.002
16, 29. Auch Judith 15. 16 kann hier als Beleg angeführt werden.

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Wir stellen neben die Poesie des Alterthums die der modernen pwa_094.004
Völker. Da sehen wir noch deutlicher als dort, wie eng und unmittelbar pwa_094.005
sich die lyrische Epik an den alten epischen Gesang anschliesse, pwa_094.006
und wie damit ein nur halber Schritt vorwärts gethan sei nach der pwa_094.007
eigentlichen Lyrik hin. Es giebt noch jetzo Völker, die immer noch pwa_094.008
nicht über diesen halben Schritt hinaus gekommen sind, die immer pwa_094.009
noch keine eigentliche Lyrik besitzen, sondern nur epische und pwa_094.010
lyrisch-epische Lieder: epische, welche sich bloss auf äussere pwa_094.011
Thatsachen richten; lyrisch-epische, welche die äusseren Thatsachen pwa_094.012
mehr nur als Motiv und Fundament für die Darlegung innerer Zustände pwa_094.013
gebrauchen, in welchen der epische Stoff wohl sogar erst pwa_094.014
erfunden wird, um einen Anknüpfungspunkt für die lyrische Empfindung pwa_094.015
zu gewähren. Solche Völker sind namentlich die Littauer und pwa_094.016
die Serben. Und zwar haben die Serben schon mehr dergleichen pwa_094.017
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schon etwas weiter vorgeschritten sind, während die Littauer pwa_094.019
durch ihren geringeren Grad von Bildung mehr auf der alten bloss pwa_094.020
epischen Stufe zurückgehalten werden. Aber des epischen Grundes pwa_094.021
können auch die Serben noch immer nicht entbehren: z. B. rein lyrische pwa_094.022
Liebeslieder findet man da nirgend, sondern es wird etwa von pwa_094.023
zwei Liebenden erzählt; die Erzählung mag sich auf eine einzige pwa_094.024
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wenigstens eine epische Situation muss vorhanden sein, und daran pwa_094.026
erst entfaltet sich die Anschauung und Darlegung innerer Zustände; pwa_094.027
jedoch nicht in lyrischer, sondern selbst diese immer noch in einer pwa_094.028
gewissen epischen Haltung, z. B. in Gesprächsform. So sehen die pwa_094.029
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Bruchstücke grösserer, mehr ausgeführter epischer Gesänge, nur dass pwa_094.031
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Bei uns Deutschen ist die lyrisch-epische Dichtung durch zweimalige pwa_094.034
Wiederholung ähnlicher Umstände auch in zwei verschiedenen pwa_094.035
Epochen aus dem Epos hervorgegangen. Zuerst im zwölften Jahrhundert, pwa_094.036
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Beispiele bieten die Dainos oder littauischen Volkslieder, gesammelt, pwa_094.039
übersetzt und herausgegeben von L. J. Rhesa (Neue Auflage. Berlin 1843) S. 48. pwa_094.040
145 und die Volkslieder der Serben, metrisch übersetzt von Talvj 1, 38. 67; pwa_094.041
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Zitationshilfe: Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873, S. 94. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wackernagel_poetik_1873/112>, abgerufen am 24.11.2024.