Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_093.001 pwa_093.013 pwa_093.001 pwa_093.013 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0111" n="93"/><lb n="pwa_093.001"/> erzählend ist. Sie haben auch noch die gewohnte epische Form, den <lb n="pwa_093.002"/> Hexameter, sowie die epische Sprache der Ilias und der Odyssee, <lb n="pwa_093.003"/> und diess reichte früher hin, um Homer als den Verfasser zu bezeichnen. <lb n="pwa_093.004"/> Späterhin jedoch, je mehr sich die Poesie ihrem epischen Grunde <lb n="pwa_093.005"/> entfremdete, je mehr sie Sache des Individuums ward, desto mehr <lb n="pwa_093.006"/> breitete sich auch der lyrische Zusatz aus; und zwei Arten solcher <lb n="pwa_093.007"/> Gelegenheitsdichtung, der Päan und der Dithyrambus, die ursprünglich <lb n="pwa_093.008"/> nur von den beiden Göttern preisend erzählt hatten, deren Namen <lb n="pwa_093.009"/> sie tragen, von Apollo und Bacchus, entäusserten sich endlich dieser <lb n="pwa_093.010"/> mythisch-epischen Beziehung gänzlich und traten als Gesänge des <lb n="pwa_093.011"/> Jubels und der Begeisterung überhaupt vollkommen in den Bereich <lb n="pwa_093.012"/> der Lyrik über.</p> <p><lb n="pwa_093.013"/> Den Threnen der Griechen entsprechen in der römischen Litteratur <lb n="pwa_093.014"/> die <hi rendition="#b">Nenien</hi> <hi rendition="#i">(Neniae, Naeniae),</hi> nur sind es nicht gerade Klagelieder <lb n="pwa_093.015"/> wie die <foreign xml:lang="grc">θρῆνοι</foreign>, sondern vielmehr Lieder zum Lobe der Hingeschiedenen; <lb n="pwa_093.016"/> sie wurden bei Leichenbegängnissen und Gastmälern zur Flöte gesungen. <lb n="pwa_093.017"/> Vgl. Niebuhr, Röm. Geschichte (1853) S. 146. Auch in der <lb n="pwa_093.018"/> Litteratur der Hebräer finden wir schon in sehr frühen Zeiten solche <lb n="pwa_093.019"/> lyrisch-epische Dichtungen, wie die Hymnen oder die Threnen oder die <lb n="pwa_093.020"/> Nenien. Es sind Lobgesänge Gottes, Klage- und Preislieder auf Verstorbene <lb n="pwa_093.021"/> u. dgl. Der Hauptsache, dem Grund und Kern nach sind <lb n="pwa_093.022"/> sie episch, die Lyrik tritt nur hinzu als Ausdruck des durch die <lb n="pwa_093.023"/> Facta angeregten momentanen Seelenzustandes. So die Lobgesänge <lb n="pwa_093.024"/> Moses, der erste nach Durchziehung des rothen Meeres (Exod. 15), <lb n="pwa_093.025"/> der zweite am Ende des vierzigjährigen Wüstenzuges (Deuteron. 32); <lb n="pwa_093.026"/> so ferner das Lied der Richterin Debora nach dem Siege über Sisera <lb n="pwa_093.027"/> (Judic. 5). So auch noch mehr als einer der Davidischen Psalmen, <lb n="pwa_093.028"/> z. B. Ps. 18 = 2 Sam. 22, „ein Lied, das David redete vor dem <lb n="pwa_093.029"/> Herrn, als ihn der Herr errettet hatte von der Hand aller seiner <lb n="pwa_093.030"/> Feinde und von der Hand Sauls“; sodann 1 Chron. 17 ein Lied, das <lb n="pwa_093.031"/> David bei der Einholung der Bundeslade singen lässt und einen Rückblick <lb n="pwa_093.032"/> auf Israels frühere Geschichte enthält. So endlich auch viele <lb n="pwa_093.033"/> nachdavidische Psalmen aus der Zeit des Exils und nach dem Exil. <lb n="pwa_093.034"/> Diesen Lobgesängen steht als <foreign xml:lang="grc">θρῆνος</foreign> gegenüber das Klagelied Davids <lb n="pwa_093.035"/> auf Saul und Jonathan: 2 Sam. 1 (vgl. 1 Kön. 13, 30). Der Vortrag <lb n="pwa_093.036"/> solcher lyrisch-epischen Dichtungen geschah auch bei den Israeliten <lb n="pwa_093.037"/> ganz nach der constanten, schon geschilderten Weise der altepischen <lb n="pwa_093.038"/> Zeit: der Gesang war mit Instrumentalmusik und Tanz verbunden. <lb n="pwa_093.039"/> So werden die Siegesloblieder auf Saul und David von tanzenden und <lb n="pwa_093.040"/> musicierenden Weibern gesungen: 1 Sam. 18, 6. 7, und bei jener Einholung <lb n="pwa_093.041"/> der Bundeslade nach Jerusalem tanzte David selbst mitten </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [93/0111]
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erzählend ist. Sie haben auch noch die gewohnte epische Form, den pwa_093.002
Hexameter, sowie die epische Sprache der Ilias und der Odyssee, pwa_093.003
und diess reichte früher hin, um Homer als den Verfasser zu bezeichnen. pwa_093.004
Späterhin jedoch, je mehr sich die Poesie ihrem epischen Grunde pwa_093.005
entfremdete, je mehr sie Sache des Individuums ward, desto mehr pwa_093.006
breitete sich auch der lyrische Zusatz aus; und zwei Arten solcher pwa_093.007
Gelegenheitsdichtung, der Päan und der Dithyrambus, die ursprünglich pwa_093.008
nur von den beiden Göttern preisend erzählt hatten, deren Namen pwa_093.009
sie tragen, von Apollo und Bacchus, entäusserten sich endlich dieser pwa_093.010
mythisch-epischen Beziehung gänzlich und traten als Gesänge des pwa_093.011
Jubels und der Begeisterung überhaupt vollkommen in den Bereich pwa_093.012
der Lyrik über.
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Den Threnen der Griechen entsprechen in der römischen Litteratur pwa_093.014
die Nenien (Neniae, Naeniae), nur sind es nicht gerade Klagelieder pwa_093.015
wie die θρῆνοι, sondern vielmehr Lieder zum Lobe der Hingeschiedenen; pwa_093.016
sie wurden bei Leichenbegängnissen und Gastmälern zur Flöte gesungen. pwa_093.017
Vgl. Niebuhr, Röm. Geschichte (1853) S. 146. Auch in der pwa_093.018
Litteratur der Hebräer finden wir schon in sehr frühen Zeiten solche pwa_093.019
lyrisch-epische Dichtungen, wie die Hymnen oder die Threnen oder die pwa_093.020
Nenien. Es sind Lobgesänge Gottes, Klage- und Preislieder auf Verstorbene pwa_093.021
u. dgl. Der Hauptsache, dem Grund und Kern nach sind pwa_093.022
sie episch, die Lyrik tritt nur hinzu als Ausdruck des durch die pwa_093.023
Facta angeregten momentanen Seelenzustandes. So die Lobgesänge pwa_093.024
Moses, der erste nach Durchziehung des rothen Meeres (Exod. 15), pwa_093.025
der zweite am Ende des vierzigjährigen Wüstenzuges (Deuteron. 32); pwa_093.026
so ferner das Lied der Richterin Debora nach dem Siege über Sisera pwa_093.027
(Judic. 5). So auch noch mehr als einer der Davidischen Psalmen, pwa_093.028
z. B. Ps. 18 = 2 Sam. 22, „ein Lied, das David redete vor dem pwa_093.029
Herrn, als ihn der Herr errettet hatte von der Hand aller seiner pwa_093.030
Feinde und von der Hand Sauls“; sodann 1 Chron. 17 ein Lied, das pwa_093.031
David bei der Einholung der Bundeslade singen lässt und einen Rückblick pwa_093.032
auf Israels frühere Geschichte enthält. So endlich auch viele pwa_093.033
nachdavidische Psalmen aus der Zeit des Exils und nach dem Exil. pwa_093.034
Diesen Lobgesängen steht als θρῆνος gegenüber das Klagelied Davids pwa_093.035
auf Saul und Jonathan: 2 Sam. 1 (vgl. 1 Kön. 13, 30). Der Vortrag pwa_093.036
solcher lyrisch-epischen Dichtungen geschah auch bei den Israeliten pwa_093.037
ganz nach der constanten, schon geschilderten Weise der altepischen pwa_093.038
Zeit: der Gesang war mit Instrumentalmusik und Tanz verbunden. pwa_093.039
So werden die Siegesloblieder auf Saul und David von tanzenden und pwa_093.040
musicierenden Weibern gesungen: 1 Sam. 18, 6. 7, und bei jener Einholung pwa_093.041
der Bundeslade nach Jerusalem tanzte David selbst mitten
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