Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_092.001 pwa_092.007 pwa_092.013 pwa_092.001 pwa_092.007 pwa_092.013 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0110" n="92"/><lb n="pwa_092.001"/> und Sage mit einander mischen, wie z. B. im armen Heinrich Hartmanns <lb n="pwa_092.002"/> von Aue. Bei jener Freiheit erklärt es sich, warum die grosse <lb n="pwa_092.003"/> Fülle solcher Gedichte, die wir seit Hans Sachs und Friedrich von <lb n="pwa_092.004"/> Hagedorn besitzen, sich getrost neben die des Mittelalters stellen darf, <lb n="pwa_092.005"/> während das neuere Epos gegenüber dem älteren so vielen einschränkenden <lb n="pwa_092.006"/> Bedingungen unterliegt, dass es ihnen eigentlich schon unterlegen ist.</p> <p><lb n="pwa_092.007"/> Bisher haben wir die Weiterbildung des alten epischen Gesanges <lb n="pwa_092.008"/> auf dem epischen Gebiete verharren sehn. Nun werden wir gewahren, <lb n="pwa_092.009"/> wie derselbe theilweise auf das Gebiet der Lyrik hinübergeleitet <lb n="pwa_092.010"/> und damit die Ausbildung der letztern als einer eignen Gattung angebahnt <lb n="pwa_092.011"/> und vermittelt wird. Diese vermittelnde Anbahnung der Lyrik <lb n="pwa_092.012"/> ist die <hi rendition="#b">Epik des Gefühles und Gemüthes.</hi></p> <p><lb n="pwa_092.013"/> Bei den Griechen ward der Grund zu einer solchen Mittelstufe <lb n="pwa_092.014"/> schon in sehr früher Zeit gelegt. Schon vor Homer bestand neben <lb n="pwa_092.015"/> den epischen Liedern, die täglich und überall konnten gesungen <lb n="pwa_092.016"/> werden, eine Art epischer Gelegenheitspoesie: es gab Dichtungen, <lb n="pwa_092.017"/> die nur auf bestimmten Anlass hin zuerst verfasst, und nur, wenn <lb n="pwa_092.018"/> dieser Anlass etwa wiederkehrte, durch wiederholte Anwendung <lb n="pwa_092.019"/> erneuert wurden. Es waren diess die <hi rendition="#b">Hymnen</hi> und die <hi rendition="#b">Threnen</hi> <lb n="pwa_092.020"/> (<foreign xml:lang="grc">θρῆνοι</foreign>), religiöse Preisgesänge und Klagelieder: jene zu Ehren <lb n="pwa_092.021"/> einem Gott, diese einem Verstorbenen; jene an religiösen Festen, <lb n="pwa_092.022"/> diese bei Begräbnissen, oder wo sonst eine Gelegenheit sich darbot, <lb n="pwa_092.023"/> eines Gottes mit preisendem Jubel, eines abgeschiedenen Menschen <lb n="pwa_092.024"/> mit Lob und Trauer zu gedenken. So die klagenden Gesänge, welche <lb n="pwa_092.025"/> Andromache, Hecabe und Helena an der Leiche Hectors anstimmen: <lb n="pwa_092.026"/> Il. 24, 716 fgg. Die Beziehung auf die einzelne Feierlichkeit, auf das <lb n="pwa_092.027"/> vorliegende Ereigniss brachte es ganz natürlich mit sich, dass neben <lb n="pwa_092.028"/> den Wundern des Gottes, neben den Thaten des Menschen, die man <lb n="pwa_092.029"/> erzählte, man auch den Gefühlen, welche die Feierlichkeit anregte, <lb n="pwa_092.030"/> Worte gab; dass man dort die religiöse Empfindung, hier die Betrübniss <lb n="pwa_092.031"/> aussprach; dass man also dem objectiv angeschauten Stoff eine <lb n="pwa_092.032"/> reflectierende Richtung auf das Subject verlieh, dass man die Thatsachen <lb n="pwa_092.033"/> der äussern Wirklichkeit in Verbindung setzte mit den innern <lb n="pwa_092.034"/> Zuständen, kurz, dass man dem epischen Gehalt noch ein lyrisches <lb n="pwa_092.035"/> Element beimischte. Anfänglich zwar war diess letztere sehr gering <lb n="pwa_092.036"/> und nahm eine durchaus untergeordnete Stelle ein. Das zeigen am <lb n="pwa_092.037"/> deutlichsten die s. g. Homerischen Hymnen, die anerkannter Massen <lb n="pwa_092.038"/> jünger sind als die letzte Abfassung der Ilias und der Odyssee, und <lb n="pwa_092.039"/> in denen gleichwohl das Lyrische sich immer noch einschränkt auf <lb n="pwa_092.040"/> einige das Lob der Gottheit allgemein aussprechende Zeilen zu Anfange <lb n="pwa_092.041"/> und ein kurzes Gebet zum Schluss, während alles Uebrige rein episch </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [92/0110]
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und Sage mit einander mischen, wie z. B. im armen Heinrich Hartmanns pwa_092.002
von Aue. Bei jener Freiheit erklärt es sich, warum die grosse pwa_092.003
Fülle solcher Gedichte, die wir seit Hans Sachs und Friedrich von pwa_092.004
Hagedorn besitzen, sich getrost neben die des Mittelalters stellen darf, pwa_092.005
während das neuere Epos gegenüber dem älteren so vielen einschränkenden pwa_092.006
Bedingungen unterliegt, dass es ihnen eigentlich schon unterlegen ist.
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Bisher haben wir die Weiterbildung des alten epischen Gesanges pwa_092.008
auf dem epischen Gebiete verharren sehn. Nun werden wir gewahren, pwa_092.009
wie derselbe theilweise auf das Gebiet der Lyrik hinübergeleitet pwa_092.010
und damit die Ausbildung der letztern als einer eignen Gattung angebahnt pwa_092.011
und vermittelt wird. Diese vermittelnde Anbahnung der Lyrik pwa_092.012
ist die Epik des Gefühles und Gemüthes.
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Bei den Griechen ward der Grund zu einer solchen Mittelstufe pwa_092.014
schon in sehr früher Zeit gelegt. Schon vor Homer bestand neben pwa_092.015
den epischen Liedern, die täglich und überall konnten gesungen pwa_092.016
werden, eine Art epischer Gelegenheitspoesie: es gab Dichtungen, pwa_092.017
die nur auf bestimmten Anlass hin zuerst verfasst, und nur, wenn pwa_092.018
dieser Anlass etwa wiederkehrte, durch wiederholte Anwendung pwa_092.019
erneuert wurden. Es waren diess die Hymnen und die Threnen pwa_092.020
(θρῆνοι), religiöse Preisgesänge und Klagelieder: jene zu Ehren pwa_092.021
einem Gott, diese einem Verstorbenen; jene an religiösen Festen, pwa_092.022
diese bei Begräbnissen, oder wo sonst eine Gelegenheit sich darbot, pwa_092.023
eines Gottes mit preisendem Jubel, eines abgeschiedenen Menschen pwa_092.024
mit Lob und Trauer zu gedenken. So die klagenden Gesänge, welche pwa_092.025
Andromache, Hecabe und Helena an der Leiche Hectors anstimmen: pwa_092.026
Il. 24, 716 fgg. Die Beziehung auf die einzelne Feierlichkeit, auf das pwa_092.027
vorliegende Ereigniss brachte es ganz natürlich mit sich, dass neben pwa_092.028
den Wundern des Gottes, neben den Thaten des Menschen, die man pwa_092.029
erzählte, man auch den Gefühlen, welche die Feierlichkeit anregte, pwa_092.030
Worte gab; dass man dort die religiöse Empfindung, hier die Betrübniss pwa_092.031
aussprach; dass man also dem objectiv angeschauten Stoff eine pwa_092.032
reflectierende Richtung auf das Subject verlieh, dass man die Thatsachen pwa_092.033
der äussern Wirklichkeit in Verbindung setzte mit den innern pwa_092.034
Zuständen, kurz, dass man dem epischen Gehalt noch ein lyrisches pwa_092.035
Element beimischte. Anfänglich zwar war diess letztere sehr gering pwa_092.036
und nahm eine durchaus untergeordnete Stelle ein. Das zeigen am pwa_092.037
deutlichsten die s. g. Homerischen Hymnen, die anerkannter Massen pwa_092.038
jünger sind als die letzte Abfassung der Ilias und der Odyssee, und pwa_092.039
in denen gleichwohl das Lyrische sich immer noch einschränkt auf pwa_092.040
einige das Lob der Gottheit allgemein aussprechende Zeilen zu Anfange pwa_092.041
und ein kurzes Gebet zum Schluss, während alles Uebrige rein episch
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