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Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873

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sich selbst, die evangelische Geschichte mit moralischen und mystischen pwa_101.002
Auslegungen der einzelnen Ereignisse durchflicht, ein sehr altes und das pwa_101.003
älteste Beispiel einer deutschen lehrhaften Epopöie; aber dann um so pwa_101.004
weniger die älteste hochdeutsche Messiade, wie sie der Anempfehlung pwa_101.005
wegen ein Herausgeber ebenso prunkhaft als unpasslich betitelt hat.

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Zwei Hauptarten lehrhaft erzählender Poesie sind zu unterscheiden: pwa_101.007
solche für deren Anschauungen die Formen aus der gegebenen pwa_101.008
Wirklichkeit entlehnt sind, und solche, deren Wirklichkeit nur eine pwa_101.009
gesetzte und angenommene ist: jene lehrt an der Wirklichkeit, diese pwa_101.010
durch dieselbe. Beide haben jedoch das mit einander gemein, dass pwa_101.011
die erstere immer ihren Lehren eine Beziehung auf das Gefühl giebt, pwa_101.012
die andre gewöhnlich und meistentheils. Und das allein hält diese pwa_101.013
Gattung noch innerhalb der Poesie fest: denn wenn die Lehre, die an pwa_101.014
sich nur Sache des Verstandes ist, gar nicht über dessen Grenzen pwa_101.015
hinausgienge, wenn sie auch bei dem Reproducierenden ausschliesslich pwa_101.016
den Verstand anspräche, so könnte sie das immerhin in den schönsten pwa_101.017
Versen thun, es wäre doch nur Prosa. Der innere Zusammenhang pwa_101.018
aber beider Arten von Gedichten mit der übrigen epischen Poesie pwa_101.019
drückt sich schon in der metrischen Form aus, indem mit seltenen pwa_101.020
Ausnahmen das didactische Epos überall bei dem sonst gewohnten pwa_101.021
epischen Masse verharrt: so im griechischen Alterthum beim Hexameter, pwa_101.022
im deutschen und im französischen Mittelalter bei den paarweis pwa_101.023
reimenden kurzen Versen und beim Alexandriner.

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Jene zwiefache Trennung, je nachdem die Wirklichkeit eine pwa_101.025
gegebene oder eine gesetzte ist, und die Ausschliessung der rein verständigen pwa_101.026
Lehre, das ist freilich selbst bei den Griechen nicht gleich pwa_101.027
von Anfang an so gewesen, sondern hat sich erst nach und nach so pwa_101.028
machen müssen. In dem ältesten Denkmal aller griechischen Lehrdichtung, pwa_101.029
in des Hesiodus Werken und Tagen, finden wir noch alle pwa_101.030
Arten nicht bloss von didactischer Epik, sondern überhaupt von didactischer pwa_101.031
Poesie, erlaubte und unerlaubte, poetische und eigentlich prosaische, pwa_101.032
ungesondert beisammen. Da lesen wir Vorschriften, wie sie pwa_101.033
nur der Verstand dem Verstande ertheilen konnte, über Ackerbau und pwa_101.034
über Handel zur See; dann wieder, indem die Lehre, jedoch ohne pwa_101.035
eine epische Anschauung zu gebrauchen, sich an das sittliche Gefühl pwa_101.036
wendet, Ermahnungen zu einem gerechten, unbescholtenen Wandel; pwa_101.037
dann als Grundlage und Mittel der Lehre epische Anschauungen, pwa_101.038
gegebene und gesetzte, überlieferte Sagen und erfundene Parabeln; pwa_101.039
dann endlich wieder ein Stück bloss beschreibender Poesie, eine pwa_101.040
Schilderung des Winters. Und das Alles bunt verwirrt durcheinander pwa_101.041
in einer Planlosigkeit, die recht dieses Werk als den ersten Versuch

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sich selbst, die evangelische Geschichte mit moralischen und mystischen pwa_101.002
Auslegungen der einzelnen Ereignisse durchflicht, ein sehr altes und das pwa_101.003
älteste Beispiel einer deutschen lehrhaften Epopöie; aber dann um so pwa_101.004
weniger die älteste hochdeutsche Messiade, wie sie der Anempfehlung pwa_101.005
wegen ein Herausgeber ebenso prunkhaft als unpasslich betitelt hat.

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Zwei Hauptarten lehrhaft erzählender Poesie sind zu unterscheiden: pwa_101.007
solche für deren Anschauungen die Formen aus der gegebenen pwa_101.008
Wirklichkeit entlehnt sind, und solche, deren Wirklichkeit nur eine pwa_101.009
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durch dieselbe. Beide haben jedoch das mit einander gemein, dass pwa_101.011
die erstere immer ihren Lehren eine Beziehung auf das Gefühl giebt, pwa_101.012
die andre gewöhnlich und meistentheils. Und das allein hält diese pwa_101.013
Gattung noch innerhalb der Poesie fest: denn wenn die Lehre, die an pwa_101.014
sich nur Sache des Verstandes ist, gar nicht über dessen Grenzen pwa_101.015
hinausgienge, wenn sie auch bei dem Reproducierenden ausschliesslich pwa_101.016
den Verstand anspräche, so könnte sie das immerhin in den schönsten pwa_101.017
Versen thun, es wäre doch nur Prosa. Der innere Zusammenhang pwa_101.018
aber beider Arten von Gedichten mit der übrigen epischen Poesie pwa_101.019
drückt sich schon in der metrischen Form aus, indem mit seltenen pwa_101.020
Ausnahmen das didactische Epos überall bei dem sonst gewohnten pwa_101.021
epischen Masse verharrt: so im griechischen Alterthum beim Hexameter, pwa_101.022
im deutschen und im französischen Mittelalter bei den paarweis pwa_101.023
reimenden kurzen Versen und beim Alexandriner.

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Jene zwiefache Trennung, je nachdem die Wirklichkeit eine pwa_101.025
gegebene oder eine gesetzte ist, und die Ausschliessung der rein verständigen pwa_101.026
Lehre, das ist freilich selbst bei den Griechen nicht gleich pwa_101.027
von Anfang an so gewesen, sondern hat sich erst nach und nach so pwa_101.028
machen müssen. In dem ältesten Denkmal aller griechischen Lehrdichtung, pwa_101.029
in des Hesiodus Werken und Tagen, finden wir noch alle pwa_101.030
Arten nicht bloss von didactischer Epik, sondern überhaupt von didactischer pwa_101.031
Poesie, erlaubte und unerlaubte, poetische und eigentlich prosaische, pwa_101.032
ungesondert beisammen. Da lesen wir Vorschriften, wie sie pwa_101.033
nur der Verstand dem Verstande ertheilen konnte, über Ackerbau und pwa_101.034
über Handel zur See; dann wieder, indem die Lehre, jedoch ohne pwa_101.035
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dann als Grundlage und Mittel der Lehre epische Anschauungen, pwa_101.038
gegebene und gesetzte, überlieferte Sagen und erfundene Parabeln; pwa_101.039
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Zitationshilfe: Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873, S. 101. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wackernagel_poetik_1873/119>, abgerufen am 21.11.2024.