pwa_106.001 jedoch kennen wir mit Vollständigkeit von der römischen Satire nur pwa_106.002 die Gestalt ihrer höchsten Ausbildung: den langen Weg bis dahin pwa_106.003 können wir leider nur höchst unvollständig verfolgen; wir können pwa_106.004 nicht mehr sehen, wie sie aus dem Volksgesange heraus nach und pwa_106.005 nach endlich dahin gediehen ist: bis auf das sogenannte goldene Zeitalter pwa_106.006 giebt es nur vereinzelte Bruchstücke von C. Lucilius und M. pwa_106.007 Terentius Varro, und auch diese fallen schon in die gräcisierende pwa_106.008 Periode. Wir müssen also die Satire nehmen, wie sie uns vorliegt pwa_106.009 bei Horaz, Persius, Juvenalis.
pwa_106.010 Persius und Juvenal unterscheiden sich von Horaz darin, dass pwa_106.011 sie dem sittlichen Gefühle gern Vorstellungen entgegenhalten, von pwa_106.012 denen es sich beleidigt abwenden, die es verwerfen muss, während pwa_106.013 die Wirklichkeit, aus welcher Horaz seine Anschauungen entlehnt, für pwa_106.014 den Verstand, vielleicht auch für das Gefühl nur unbehaglich ist, nur pwa_106.015 dagegen anstreitet: Persius und Juvenalis richten ihre Satire strafend pwa_106.016 gegen das Laster, Horaz spottend und launig gegen die Thorheit. pwa_106.017 Jenes Verfahren der beiden späteren Satiriker ist bis zur Verwerflichkeit pwa_106.018 bedenklich: sie wollen das sittliche Gefühl belehren und pwa_106.019 stossen es doch schonungslos zurück; dagegen werden durch Horazens pwa_106.020 Laune und durch seinen Spott das Gefühl und der Verstand vielmehr pwa_106.021 nur gereizt, durch die lächerlichen Verkehrtheiten hindurch nach dem pwa_106.022 Rechten hinzuschauen. Zu diesem Unterschiede kommt ein andrer, pwa_106.023 der für unsre Betrachtung von noch grösserem Belang ist. Horazens pwa_106.024 Satiren sind wesentlich episch: sie haben alle entweder von Anfang pwa_106.025 bis zu Ende einen epischen Verlauf lächerlicher Thatsachen, und dieser pwa_106.026 epische Verlauf trägt und umschliesst das, worauf es eigentlich pwa_106.027 abgesehen ist, die spottende Lehre, grade wie im Idyll der epische pwa_106.028 Verlauf die Beschreibung trägt; oder sie enthalten wenigstens als pwa_106.029 saturae eingestreute epische Situationen, an deren jede die Lehre sich pwa_106.030 anschliesst und so lange darauf fortbaut, bis sie, um neue Seiten zu pwa_106.031 zeigen, nach einem neuen epischen Motive greift, das mit dem vorigen pwa_106.032 nicht äusserlich, sondern etwa nur durch die gemeinsame Grundidee pwa_106.033 des ganzen Gedichtes zusammenhängt. Natürlich ist diese epische pwa_106.034 Grundlage auch da, wo sie einen einzigen Verlauf bildet, dennoch pwa_106.035 immer höchst einfach, von geringem, leicht überschaulichem Umfange; pwa_106.036 und alles, was geschieht, gehört der gleichzeitigen Gegenwart an pwa_106.037 und ist an sich unbedeutend, grade wie im Idyll: denn grossartige pwa_106.038 Charactere und gewaltige Ereignisse und eine entfernte Vorzeit liegen pwa_106.039 nicht im Bereich des Spottes, und einen langen Weg von Thatsachen pwa_106.040 unter beständigem Lachen zu durchlaufen, wäre zuletzt nur ermüdend. pwa_106.041 Wie aber die Horazische Satire schon in der Versform sich an die
pwa_106.001 jedoch kennen wir mit Vollständigkeit von der römischen Satire nur pwa_106.002 die Gestalt ihrer höchsten Ausbildung: den langen Weg bis dahin pwa_106.003 können wir leider nur höchst unvollständig verfolgen; wir können pwa_106.004 nicht mehr sehen, wie sie aus dem Volksgesange heraus nach und pwa_106.005 nach endlich dahin gediehen ist: bis auf das sogenannte goldene Zeitalter pwa_106.006 giebt es nur vereinzelte Bruchstücke von C. Lucilius und M. pwa_106.007 Terentius Varro, und auch diese fallen schon in die gräcisierende pwa_106.008 Periode. Wir müssen also die Satire nehmen, wie sie uns vorliegt pwa_106.009 bei Horaz, Persius, Juvenalis.
pwa_106.010 Persius und Juvenal unterscheiden sich von Horaz darin, dass pwa_106.011 sie dem sittlichen Gefühle gern Vorstellungen entgegenhalten, von pwa_106.012 denen es sich beleidigt abwenden, die es verwerfen muss, während pwa_106.013 die Wirklichkeit, aus welcher Horaz seine Anschauungen entlehnt, für pwa_106.014 den Verstand, vielleicht auch für das Gefühl nur unbehaglich ist, nur pwa_106.015 dagegen anstreitet: Persius und Juvenalis richten ihre Satire strafend pwa_106.016 gegen das Laster, Horaz spottend und launig gegen die Thorheit. pwa_106.017 Jenes Verfahren der beiden späteren Satiriker ist bis zur Verwerflichkeit pwa_106.018 bedenklich: sie wollen das sittliche Gefühl belehren und pwa_106.019 stossen es doch schonungslos zurück; dagegen werden durch Horazens pwa_106.020 Laune und durch seinen Spott das Gefühl und der Verstand vielmehr pwa_106.021 nur gereizt, durch die lächerlichen Verkehrtheiten hindurch nach dem pwa_106.022 Rechten hinzuschauen. Zu diesem Unterschiede kommt ein andrer, pwa_106.023 der für unsre Betrachtung von noch grösserem Belang ist. Horazens pwa_106.024 Satiren sind wesentlich episch: sie haben alle entweder von Anfang pwa_106.025 bis zu Ende einen epischen Verlauf lächerlicher Thatsachen, und dieser pwa_106.026 epische Verlauf trägt und umschliesst das, worauf es eigentlich pwa_106.027 abgesehen ist, die spottende Lehre, grade wie im Idyll der epische pwa_106.028 Verlauf die Beschreibung trägt; oder sie enthalten wenigstens als pwa_106.029 saturae eingestreute epische Situationen, an deren jede die Lehre sich pwa_106.030 anschliesst und so lange darauf fortbaut, bis sie, um neue Seiten zu pwa_106.031 zeigen, nach einem neuen epischen Motive greift, das mit dem vorigen pwa_106.032 nicht äusserlich, sondern etwa nur durch die gemeinsame Grundidee pwa_106.033 des ganzen Gedichtes zusammenhängt. Natürlich ist diese epische pwa_106.034 Grundlage auch da, wo sie einen einzigen Verlauf bildet, dennoch pwa_106.035 immer höchst einfach, von geringem, leicht überschaulichem Umfange; pwa_106.036 und alles, was geschieht, gehört der gleichzeitigen Gegenwart an pwa_106.037 und ist an sich unbedeutend, grade wie im Idyll: denn grossartige pwa_106.038 Charactere und gewaltige Ereignisse und eine entfernte Vorzeit liegen pwa_106.039 nicht im Bereich des Spottes, und einen langen Weg von Thatsachen pwa_106.040 unter beständigem Lachen zu durchlaufen, wäre zuletzt nur ermüdend. pwa_106.041 Wie aber die Horazische Satire schon in der Versform sich an die
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können wir leider nur höchst unvollständig verfolgen; wir können pwa_106.004
nicht mehr sehen, wie sie aus dem Volksgesange heraus nach und pwa_106.005
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Terentius Varro, und auch diese fallen schon in die gräcisierende pwa_106.008
Periode. Wir müssen also die Satire nehmen, wie sie uns vorliegt pwa_106.009
bei Horaz, Persius, Juvenalis.
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Persius und Juvenal unterscheiden sich von Horaz darin, dass pwa_106.011
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denen es sich beleidigt abwenden, die es verwerfen muss, während pwa_106.013
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dagegen anstreitet: Persius und Juvenalis richten ihre Satire strafend pwa_106.016
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immer höchst einfach, von geringem, leicht überschaulichem Umfange; pwa_106.036
und alles, was geschieht, gehört der gleichzeitigen Gegenwart an pwa_106.037
und ist an sich unbedeutend, grade wie im Idyll: denn grossartige pwa_106.038
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unter beständigem Lachen zu durchlaufen, wäre zuletzt nur ermüdend. pwa_106.041
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Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873, S. 106. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wackernagel_poetik_1873/124>, abgerufen am 21.11.2024.
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