Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_118.001 pwa_118.033 pwa_118.001 pwa_118.033 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0136" n="118"/><lb n="pwa_118.001"/> Uebereinstimmung beider kommt auch noch mannigfache äussere Verbindung. <lb n="pwa_118.002"/> Es ist nämlich gar nicht zu bezweifeln, dass viele Sprichwörter <lb n="pwa_118.003"/> nur verkürzte Fabeln oder Thiersagen, viele Fabeln nur erweiterte <lb n="pwa_118.004"/> Sprichwörter seien. Wenn es z. B. bei Jesus Sirach 13, 3 heisst: <lb n="pwa_118.005"/> „Was soll der irdene Topf mit dem ehernen? wenn sie zusammenstossen, <lb n="pwa_118.006"/> zerbricht er“: so ist das noch ein Sprichwort. Zur Fabel <lb n="pwa_118.007"/> ausgeführt begegnet uns dann dasselbe Bild unter den jüngeren griechischen <lb n="pwa_118.008"/> Vermehrungen des Aesop (Halms Ausgabe 422), bei Avian 11, <lb n="pwa_118.009"/> bei Bonerius (im Edelstein, Fab. 77) u. a. Umgekehrter Weise verhält <lb n="pwa_118.010"/> es sich mit einem Sprichworte, das Freidank in seine Bescheidenheit <lb n="pwa_118.011"/> aufgenommen hat: „Swer den mûl wil frâgen von sînen <lb n="pwa_118.012"/> hœhsten mâgen, sô nennet er ê den œhein dan vater oder friunde <lb n="pwa_118.013"/> dehein“ (W. Grimms Ausg. 141). Das ist wieder Verkürzung einer <lb n="pwa_118.014"/> ältern Fabel, die schon bei Aesop erscheint (Halms Ausg. 157) und bei <lb n="pwa_118.015"/> Lateinern des Mittelalters vor Freidank und nach ihm noch als Fabel <lb n="pwa_118.016"/> im Renner Hugos vom Trimberg (LB. 1<hi rendition="#sup">4</hi>, 831. 1<hi rendition="#sup">5</hi>, 1011). Und ebenso <lb n="pwa_118.017"/> hat unsre sprichwörtliche Redensart „der Katze die Schelle anbinden“ <lb n="pwa_118.018"/> d. h. sich zum gemeinen Besten einer Gefahr aussetzen (Grimm, Wörterbuch <lb n="pwa_118.019"/> 5, 283) ihren Ursprung und ihre Erklärung nur in einer Fabel <lb n="pwa_118.020"/> lateinischer und deutscher Dichter des Mittelalters (Boner. Edelst. 70). <lb n="pwa_118.021"/> Am deutlichsten zeigt sich dieser Zusammenhang bei Bonerius: Bonerius <lb n="pwa_118.022"/> liebt es, die lehrhafte Wirkung seiner Fabeln noch durch eingemischte <lb n="pwa_118.023"/> Sprichwörter zu verstärken, und da sagen denn diese Sprichwörter in der <lb n="pwa_118.024"/> Regel auch das Gleiche, nur kürzer, was die ganze Fabel, nur weitläuftiger, <lb n="pwa_118.025"/> sagen will. So beginnt die zweiundzwanzigste (LB. 1<hi rendition="#sup">4</hi>, 945. <lb n="pwa_118.026"/> 1<hi rendition="#sup">5</hi>, 1125) von der Reue des todtkranken Weihen mit dem Sprichworte: <lb n="pwa_118.027"/> „Dô der siech genas, dô was er, der er ouch ê was“; und weiterhin <lb n="pwa_118.028"/> (LB. 1 <hi rendition="#sup">4</hi>, 946, 3. 1 <hi rendition="#sup">5</hi>, 1126, 3) kehrt noch einmal der gleiche Satz <lb n="pwa_118.029"/> in andrer, wenig abweichender Einkleidung wieder: „Ein wolf was <lb n="pwa_118.030"/> siech: dô er genas, er was ein wolf als er ê was“. Sicher beruhen <lb n="pwa_118.031"/> auch diese beiden Sprichwörter auf älteren Fabeln: nur so erklärt <lb n="pwa_118.032"/> sich die hier angewendete seltnere Form des Präteritums.</p> <p><lb n="pwa_118.033"/> Wie die Fabel in der äusseren Darstellung schwankt zwischen <lb n="pwa_118.034"/> gebundner und ungebundner Rede, so denn auch das mit ihr verwandte <lb n="pwa_118.035"/> Sprichwort. Und es dürfte kaum verwundern, wenn das <lb n="pwa_118.036"/> Sprichwort überall und ganz und gar die prosaische Form vorzöge, <lb n="pwa_118.037"/> da es ja wo möglich noch didactischer ist als die Fabel. In der That <lb n="pwa_118.038"/> liegt auch, wenn etwa ein Sprichwort rhythmisch geordnet und mit <lb n="pwa_118.039"/> dem Reim oder der Allitteration geschmückt ist, darin noch keinerlei <lb n="pwa_118.040"/> Anspruch auf poetische Kunst: der Rhythmus der Rede und der Gleichklang <lb n="pwa_118.041"/> der Laute sollen nur grade diese Gestalt der Abfassung sichern </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [118/0136]
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Uebereinstimmung beider kommt auch noch mannigfache äussere Verbindung. pwa_118.002
Es ist nämlich gar nicht zu bezweifeln, dass viele Sprichwörter pwa_118.003
nur verkürzte Fabeln oder Thiersagen, viele Fabeln nur erweiterte pwa_118.004
Sprichwörter seien. Wenn es z. B. bei Jesus Sirach 13, 3 heisst: pwa_118.005
„Was soll der irdene Topf mit dem ehernen? wenn sie zusammenstossen, pwa_118.006
zerbricht er“: so ist das noch ein Sprichwort. Zur Fabel pwa_118.007
ausgeführt begegnet uns dann dasselbe Bild unter den jüngeren griechischen pwa_118.008
Vermehrungen des Aesop (Halms Ausgabe 422), bei Avian 11, pwa_118.009
bei Bonerius (im Edelstein, Fab. 77) u. a. Umgekehrter Weise verhält pwa_118.010
es sich mit einem Sprichworte, das Freidank in seine Bescheidenheit pwa_118.011
aufgenommen hat: „Swer den mûl wil frâgen von sînen pwa_118.012
hœhsten mâgen, sô nennet er ê den œhein dan vater oder friunde pwa_118.013
dehein“ (W. Grimms Ausg. 141). Das ist wieder Verkürzung einer pwa_118.014
ältern Fabel, die schon bei Aesop erscheint (Halms Ausg. 157) und bei pwa_118.015
Lateinern des Mittelalters vor Freidank und nach ihm noch als Fabel pwa_118.016
im Renner Hugos vom Trimberg (LB. 14, 831. 15, 1011). Und ebenso pwa_118.017
hat unsre sprichwörtliche Redensart „der Katze die Schelle anbinden“ pwa_118.018
d. h. sich zum gemeinen Besten einer Gefahr aussetzen (Grimm, Wörterbuch pwa_118.019
5, 283) ihren Ursprung und ihre Erklärung nur in einer Fabel pwa_118.020
lateinischer und deutscher Dichter des Mittelalters (Boner. Edelst. 70). pwa_118.021
Am deutlichsten zeigt sich dieser Zusammenhang bei Bonerius: Bonerius pwa_118.022
liebt es, die lehrhafte Wirkung seiner Fabeln noch durch eingemischte pwa_118.023
Sprichwörter zu verstärken, und da sagen denn diese Sprichwörter in der pwa_118.024
Regel auch das Gleiche, nur kürzer, was die ganze Fabel, nur weitläuftiger, pwa_118.025
sagen will. So beginnt die zweiundzwanzigste (LB. 14, 945. pwa_118.026
15, 1125) von der Reue des todtkranken Weihen mit dem Sprichworte: pwa_118.027
„Dô der siech genas, dô was er, der er ouch ê was“; und weiterhin pwa_118.028
(LB. 1 4, 946, 3. 1 5, 1126, 3) kehrt noch einmal der gleiche Satz pwa_118.029
in andrer, wenig abweichender Einkleidung wieder: „Ein wolf was pwa_118.030
siech: dô er genas, er was ein wolf als er ê was“. Sicher beruhen pwa_118.031
auch diese beiden Sprichwörter auf älteren Fabeln: nur so erklärt pwa_118.032
sich die hier angewendete seltnere Form des Präteritums.
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Wie die Fabel in der äusseren Darstellung schwankt zwischen pwa_118.034
gebundner und ungebundner Rede, so denn auch das mit ihr verwandte pwa_118.035
Sprichwort. Und es dürfte kaum verwundern, wenn das pwa_118.036
Sprichwort überall und ganz und gar die prosaische Form vorzöge, pwa_118.037
da es ja wo möglich noch didactischer ist als die Fabel. In der That pwa_118.038
liegt auch, wenn etwa ein Sprichwort rhythmisch geordnet und mit pwa_118.039
dem Reim oder der Allitteration geschmückt ist, darin noch keinerlei pwa_118.040
Anspruch auf poetische Kunst: der Rhythmus der Rede und der Gleichklang pwa_118.041
der Laute sollen nur grade diese Gestalt der Abfassung sichern
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