Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_119.001 pwa_119.008 2. DIE LYRISCHE POESIE. pwa_119.009 pwa_119.019 pwa_119.001 pwa_119.008 2. DIE LYRISCHE POESIE. pwa_119.009 pwa_119.019 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0137" n="119"/><lb n="pwa_119.001"/> und das Aufbewahren im Gedächtnisse erleichtern. Die ältesten <lb n="pwa_119.002"/> Sprichwörter der Deutschen, welche am Anfang des elften Jahrhunderts <lb n="pwa_119.003"/> schriftlich aufgezeichnet wurden (LB. 1<hi rendition="#sup">4</hi>, 139. 1<hi rendition="#sup">5</hi>, 317), sind beinah ohne <lb n="pwa_119.004"/> Ausnahme alle prosaisch, gleich denen der alten Welt und des Morgenlandes: <lb n="pwa_119.005"/> die Form des Reimes häufiger auf sie anzuwenden hat <lb n="pwa_119.006"/> man vielleicht erst von Freidank, also erst am Anfang des dreizehnten <lb n="pwa_119.007"/> Jahrhunderts gelernt. </p> </div> <div n="4"> <head> <hi rendition="#c"><lb n="pwa_119.008"/> 2. DIE LYRISCHE POESIE.</hi> </head> <p><lb n="pwa_119.009"/> Indem wir von der epischen Poesie zur lyrischen übergehn, kommen <lb n="pwa_119.010"/> wir von einem polaren Gegensatz zum anderen. In den meisten <lb n="pwa_119.011"/> Stücken liegen beide innerhalb ganz verschiedener Regionen und <lb n="pwa_119.012"/> schlagen durchaus verschiedene Wege ein. Aber doch ist die eine <lb n="pwa_119.013"/> aus der andern hervorgegangen, und so wird auch irgendwo ein Punct <lb n="pwa_119.014"/> sein müssen, in welchem sich beide berühren. Jene Trennung und <lb n="pwa_119.015"/> diese Vereinigung, beides ist nun zu besprechen. Die Eigenthümlichkeiten <lb n="pwa_119.016"/> der lyrischen Poesie werden uns klarer vor Augen treten, wenn <lb n="pwa_119.017"/> wir sie mit den uns bereits bekannten Eigenthümlichkeiten der epischen <lb n="pwa_119.018"/> Poesie zusammenstellen.</p> <p><lb n="pwa_119.019"/> Die Epik entnimmt ihre Anschauungen aus der Wirklichkeit der <lb n="pwa_119.020"/> Geschichte, also der sinnlichen Aussenwelt: die Anschauungen des <lb n="pwa_119.021"/> lyrischen Dichters gehören der geistigen Innerlichkeit, seine Wirklichkeit <lb n="pwa_119.022"/> ist die des Seelenlebens; während uns also der epische Dichter <lb n="pwa_119.023"/> äussere Thatsachen vorführt, zeigt uns der Lyriker innere Zustände. <lb n="pwa_119.024"/> In der Epik ist das Object der Anschauung verschieden von dem <lb n="pwa_119.025"/> anschauenden Subject, und je weniger dieses sich bemerkbar macht, <lb n="pwa_119.026"/> je reiner und ungetrübter bloss das Object vor Augen tritt, desto <lb n="pwa_119.027"/> vollkommener wird auch die Dichtung sein: der Character der Epik <lb n="pwa_119.028"/> ist also die Objectivität. In der Lyrik sind Subject und Object eins, <lb n="pwa_119.029"/> das Subject hat sich selbst zum Object, sie ist gleichsam reflexive <lb n="pwa_119.030"/> Poesie: hier ist also die höchste Subjectivität zugleich die höchste <lb n="pwa_119.031"/> Objectivität, und je subjectiver ein lyrisches Gedicht ist, desto lyrischer <lb n="pwa_119.032"/> ist es auch: man kann deshalb im Gegensatz zur Epik als das <lb n="pwa_119.033"/> Wesen der Lyrik die Subjectivität bezeichnen. Der Epiker erlangt <lb n="pwa_119.034"/> jene Objectivität nur dadurch, dass er sich seiner Anschauungen vorzüglich <lb n="pwa_119.035"/> durch die Einbildungskraft bemächtigt, dass er die Geschichte <lb n="pwa_119.036"/> festhält durch die Erinnerung, dass er der Geschichte nachschafft durch <lb n="pwa_119.037"/> die Phantasie; die epische Poesie ist die Poesie der Einbildungskraft. <lb n="pwa_119.038"/> Die Subjectivität der Lyrik dagegen beruht in dem erregten Gefühl <lb n="pwa_119.039"/> des dichterischen Subjectes, in diesem sind die Anschauungen zu Hause, </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [119/0137]
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und das Aufbewahren im Gedächtnisse erleichtern. Die ältesten pwa_119.002
Sprichwörter der Deutschen, welche am Anfang des elften Jahrhunderts pwa_119.003
schriftlich aufgezeichnet wurden (LB. 14, 139. 15, 317), sind beinah ohne pwa_119.004
Ausnahme alle prosaisch, gleich denen der alten Welt und des Morgenlandes: pwa_119.005
die Form des Reimes häufiger auf sie anzuwenden hat pwa_119.006
man vielleicht erst von Freidank, also erst am Anfang des dreizehnten pwa_119.007
Jahrhunderts gelernt.
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2. DIE LYRISCHE POESIE. pwa_119.009
Indem wir von der epischen Poesie zur lyrischen übergehn, kommen pwa_119.010
wir von einem polaren Gegensatz zum anderen. In den meisten pwa_119.011
Stücken liegen beide innerhalb ganz verschiedener Regionen und pwa_119.012
schlagen durchaus verschiedene Wege ein. Aber doch ist die eine pwa_119.013
aus der andern hervorgegangen, und so wird auch irgendwo ein Punct pwa_119.014
sein müssen, in welchem sich beide berühren. Jene Trennung und pwa_119.015
diese Vereinigung, beides ist nun zu besprechen. Die Eigenthümlichkeiten pwa_119.016
der lyrischen Poesie werden uns klarer vor Augen treten, wenn pwa_119.017
wir sie mit den uns bereits bekannten Eigenthümlichkeiten der epischen pwa_119.018
Poesie zusammenstellen.
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Die Epik entnimmt ihre Anschauungen aus der Wirklichkeit der pwa_119.020
Geschichte, also der sinnlichen Aussenwelt: die Anschauungen des pwa_119.021
lyrischen Dichters gehören der geistigen Innerlichkeit, seine Wirklichkeit pwa_119.022
ist die des Seelenlebens; während uns also der epische Dichter pwa_119.023
äussere Thatsachen vorführt, zeigt uns der Lyriker innere Zustände. pwa_119.024
In der Epik ist das Object der Anschauung verschieden von dem pwa_119.025
anschauenden Subject, und je weniger dieses sich bemerkbar macht, pwa_119.026
je reiner und ungetrübter bloss das Object vor Augen tritt, desto pwa_119.027
vollkommener wird auch die Dichtung sein: der Character der Epik pwa_119.028
ist also die Objectivität. In der Lyrik sind Subject und Object eins, pwa_119.029
das Subject hat sich selbst zum Object, sie ist gleichsam reflexive pwa_119.030
Poesie: hier ist also die höchste Subjectivität zugleich die höchste pwa_119.031
Objectivität, und je subjectiver ein lyrisches Gedicht ist, desto lyrischer pwa_119.032
ist es auch: man kann deshalb im Gegensatz zur Epik als das pwa_119.033
Wesen der Lyrik die Subjectivität bezeichnen. Der Epiker erlangt pwa_119.034
jene Objectivität nur dadurch, dass er sich seiner Anschauungen vorzüglich pwa_119.035
durch die Einbildungskraft bemächtigt, dass er die Geschichte pwa_119.036
festhält durch die Erinnerung, dass er der Geschichte nachschafft durch pwa_119.037
die Phantasie; die epische Poesie ist die Poesie der Einbildungskraft. pwa_119.038
Die Subjectivität der Lyrik dagegen beruht in dem erregten Gefühl pwa_119.039
des dichterischen Subjectes, in diesem sind die Anschauungen zu Hause,
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