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Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873

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episches Gedicht schreitet vorwärts, weil die Wirklichkeit, aus der pwa_122.002
es seine Anschauungen entnimmt, eine geschichtliche, d. h. eine von pwa_122.003
Thatsache zu Thatsache vorwärts schreitende ist. Ein lyrisches Gedicht pwa_122.004
geht auch vorwärts, aber nicht aus dem gleichen Grunde: denn seine pwa_122.005
Anschauungen gehören nicht der äusseren Geschichte an; sondern es pwa_122.006
geht vorwärts, weil die inneren Zustände nothwendig auch einen pwa_122.007
historischen Verlauf, eine causale Verkettung haben gleich den Thatsachen pwa_122.008
der Epik, und weil die Empfindungen des Dichters auch nicht pwa_122.009
neben einander liegen, sondern eine der andern nachfolgen, eine aus pwa_122.010
der andern hervorgehen; es geht vorwärts auch wieder jenes Mittels pwa_122.011
der Darstellung wegen, weil auch die Sprache vorwärts geht. Es hat pwa_122.012
also ein lyrisches Gedicht in Anschauung und Darstellung ebenso wohl pwa_122.013
zusammenhangenden Fortschritt und Reihenfolge als ein episches, nur pwa_122.014
dass es hier innere Zustände sind, die in einer Reihenfolge von Ursache pwa_122.015
und Wirkung vor uns treten.

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Daraus ergiebt sich eine Regel über die Grösse und den Umfang, pwa_122.017
überhaupt die ganze Composition lyrischer Dichtungen. Die Einheit pwa_122.018
Einer leitenden Idee, welche Anfang, Mitte und Ende beherrscht, pwa_122.019
welche Alles zusammenhält und jede Empfindung zurückweist, die pwa_122.020
ausser ihrem Bereiche liegt, diese Einheit versteht sich von selbst: pwa_122.021
denn das ist eine allgemeine Anforderung, der sich jedes Kunstwerk pwa_122.022
unterwerfen muss. Aber für die Lyrik wird insbesondere noch eine pwa_122.023
überschauliche, gedrungene, concentrierende Einfachheit verlangt. Ein pwa_122.024
episches Gedicht kann sich eher ausdehnen und überall ausführlich pwa_122.025
sein: denn da der causale Zusammenhang äusserer Thatsachen leichter pwa_122.026
zu fassen ist, so kann der Leser dem Dichter auch auf einem längeren pwa_122.027
Wege reproducierend folgen. Nicht so ist es bei lyrischen Dichtungen. pwa_122.028
Hier gilt es die Reproduction innerer Zustände; und diese pwa_122.029
ist offenbar um vieles schwieriger: es sind leisere Fäden, an welchen pwa_122.030
die Empfindungen zusammenhangen als jene, welche Thatsache mit pwa_122.031
Thatsache verbinden. Deshalb ist es hier gut, den Kreis so eng zu pwa_122.032
ziehen als möglich, und gut, auch innerhalb des engen Kreises nicht pwa_122.033
gar zu weitläuftig und ausführlich zu sein; wenn man gar zu sehr pwa_122.034
bemüht ist, dem Leser die einzelnen Empfindungen eigentlich vorzuentwickeln pwa_122.035
und ihm auch den kleinsten Schritt aus einer in die andre pwa_122.036
vorzuthun, so kann man gewiss sein, dass er bald keinen mehr nachthut; pwa_122.037
denn er erwartet hier nachempfindbare Bewegung des Gemüthes, pwa_122.038
aber keine nachdenklich psychologische Entwickelung. Diese Regel pwa_122.039
der concentrierten Einfachheit gilt jedoch in ihrer ganzen Ausdehnung pwa_122.040
nur für rein lyrische Dichtungen, nicht aber für episch-lyrische oder pwa_122.041
für didactisch-lyrische: bei solchen lässt man sich den längeren und

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episches Gedicht schreitet vorwärts, weil die Wirklichkeit, aus der pwa_122.002
es seine Anschauungen entnimmt, eine geschichtliche, d. h. eine von pwa_122.003
Thatsache zu Thatsache vorwärts schreitende ist. Ein lyrisches Gedicht pwa_122.004
geht auch vorwärts, aber nicht aus dem gleichen Grunde: denn seine pwa_122.005
Anschauungen gehören nicht der äusseren Geschichte an; sondern es pwa_122.006
geht vorwärts, weil die inneren Zustände nothwendig auch einen pwa_122.007
historischen Verlauf, eine causale Verkettung haben gleich den Thatsachen pwa_122.008
der Epik, und weil die Empfindungen des Dichters auch nicht pwa_122.009
neben einander liegen, sondern eine der andern nachfolgen, eine aus pwa_122.010
der andern hervorgehen; es geht vorwärts auch wieder jenes Mittels pwa_122.011
der Darstellung wegen, weil auch die Sprache vorwärts geht. Es hat pwa_122.012
also ein lyrisches Gedicht in Anschauung und Darstellung ebenso wohl pwa_122.013
zusammenhangenden Fortschritt und Reihenfolge als ein episches, nur pwa_122.014
dass es hier innere Zustände sind, die in einer Reihenfolge von Ursache pwa_122.015
und Wirkung vor uns treten.

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Daraus ergiebt sich eine Regel über die Grösse und den Umfang, pwa_122.017
überhaupt die ganze Composition lyrischer Dichtungen. Die Einheit pwa_122.018
Einer leitenden Idee, welche Anfang, Mitte und Ende beherrscht, pwa_122.019
welche Alles zusammenhält und jede Empfindung zurückweist, die pwa_122.020
ausser ihrem Bereiche liegt, diese Einheit versteht sich von selbst: pwa_122.021
denn das ist eine allgemeine Anforderung, der sich jedes Kunstwerk pwa_122.022
unterwerfen muss. Aber für die Lyrik wird insbesondere noch eine pwa_122.023
überschauliche, gedrungene, concentrierende Einfachheit verlangt. Ein pwa_122.024
episches Gedicht kann sich eher ausdehnen und überall ausführlich pwa_122.025
sein: denn da der causale Zusammenhang äusserer Thatsachen leichter pwa_122.026
zu fassen ist, so kann der Leser dem Dichter auch auf einem längeren pwa_122.027
Wege reproducierend folgen. Nicht so ist es bei lyrischen Dichtungen. pwa_122.028
Hier gilt es die Reproduction innerer Zustände; und diese pwa_122.029
ist offenbar um vieles schwieriger: es sind leisere Fäden, an welchen pwa_122.030
die Empfindungen zusammenhangen als jene, welche Thatsache mit pwa_122.031
Thatsache verbinden. Deshalb ist es hier gut, den Kreis so eng zu pwa_122.032
ziehen als möglich, und gut, auch innerhalb des engen Kreises nicht pwa_122.033
gar zu weitläuftig und ausführlich zu sein; wenn man gar zu sehr pwa_122.034
bemüht ist, dem Leser die einzelnen Empfindungen eigentlich vorzuentwickeln pwa_122.035
und ihm auch den kleinsten Schritt aus einer in die andre pwa_122.036
vorzuthun, so kann man gewiss sein, dass er bald keinen mehr nachthut; pwa_122.037
denn er erwartet hier nachempfindbare Bewegung des Gemüthes, pwa_122.038
aber keine nachdenklich psychologische Entwickelung. Diese Regel pwa_122.039
der concentrierten Einfachheit gilt jedoch in ihrer ganzen Ausdehnung pwa_122.040
nur für rein lyrische Dichtungen, nicht aber für episch-lyrische oder pwa_122.041
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[122/0140] pwa_122.001 episches Gedicht schreitet vorwärts, weil die Wirklichkeit, aus der pwa_122.002 es seine Anschauungen entnimmt, eine geschichtliche, d. h. eine von pwa_122.003 Thatsache zu Thatsache vorwärts schreitende ist. Ein lyrisches Gedicht pwa_122.004 geht auch vorwärts, aber nicht aus dem gleichen Grunde: denn seine pwa_122.005 Anschauungen gehören nicht der äusseren Geschichte an; sondern es pwa_122.006 geht vorwärts, weil die inneren Zustände nothwendig auch einen pwa_122.007 historischen Verlauf, eine causale Verkettung haben gleich den Thatsachen pwa_122.008 der Epik, und weil die Empfindungen des Dichters auch nicht pwa_122.009 neben einander liegen, sondern eine der andern nachfolgen, eine aus pwa_122.010 der andern hervorgehen; es geht vorwärts auch wieder jenes Mittels pwa_122.011 der Darstellung wegen, weil auch die Sprache vorwärts geht. Es hat pwa_122.012 also ein lyrisches Gedicht in Anschauung und Darstellung ebenso wohl pwa_122.013 zusammenhangenden Fortschritt und Reihenfolge als ein episches, nur pwa_122.014 dass es hier innere Zustände sind, die in einer Reihenfolge von Ursache pwa_122.015 und Wirkung vor uns treten. pwa_122.016 Daraus ergiebt sich eine Regel über die Grösse und den Umfang, pwa_122.017 überhaupt die ganze Composition lyrischer Dichtungen. Die Einheit pwa_122.018 Einer leitenden Idee, welche Anfang, Mitte und Ende beherrscht, pwa_122.019 welche Alles zusammenhält und jede Empfindung zurückweist, die pwa_122.020 ausser ihrem Bereiche liegt, diese Einheit versteht sich von selbst: pwa_122.021 denn das ist eine allgemeine Anforderung, der sich jedes Kunstwerk pwa_122.022 unterwerfen muss. Aber für die Lyrik wird insbesondere noch eine pwa_122.023 überschauliche, gedrungene, concentrierende Einfachheit verlangt. Ein pwa_122.024 episches Gedicht kann sich eher ausdehnen und überall ausführlich pwa_122.025 sein: denn da der causale Zusammenhang äusserer Thatsachen leichter pwa_122.026 zu fassen ist, so kann der Leser dem Dichter auch auf einem längeren pwa_122.027 Wege reproducierend folgen. Nicht so ist es bei lyrischen Dichtungen. pwa_122.028 Hier gilt es die Reproduction innerer Zustände; und diese pwa_122.029 ist offenbar um vieles schwieriger: es sind leisere Fäden, an welchen pwa_122.030 die Empfindungen zusammenhangen als jene, welche Thatsache mit pwa_122.031 Thatsache verbinden. Deshalb ist es hier gut, den Kreis so eng zu pwa_122.032 ziehen als möglich, und gut, auch innerhalb des engen Kreises nicht pwa_122.033 gar zu weitläuftig und ausführlich zu sein; wenn man gar zu sehr pwa_122.034 bemüht ist, dem Leser die einzelnen Empfindungen eigentlich vorzuentwickeln pwa_122.035 und ihm auch den kleinsten Schritt aus einer in die andre pwa_122.036 vorzuthun, so kann man gewiss sein, dass er bald keinen mehr nachthut; pwa_122.037 denn er erwartet hier nachempfindbare Bewegung des Gemüthes, pwa_122.038 aber keine nachdenklich psychologische Entwickelung. Diese Regel pwa_122.039 der concentrierten Einfachheit gilt jedoch in ihrer ganzen Ausdehnung pwa_122.040 nur für rein lyrische Dichtungen, nicht aber für episch-lyrische oder pwa_122.041 für didactisch-lyrische: bei solchen lässt man sich den längeren und

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Zitationshilfe: Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873, S. 122. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wackernagel_poetik_1873/140>, abgerufen am 21.11.2024.