Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_127.001 pwa_127.017 pwa_127.035 pwa_127.001 pwa_127.017 pwa_127.035 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0145" n="127"/><lb n="pwa_127.001"/> aber den Namen missverstanden und verdreht: statt unter <hi rendition="#i">Heroides</hi> <lb n="pwa_127.002"/> Heroinnen, Heldinnen, episch berühmte Weiber zu verstehn, hat man <lb n="pwa_127.003"/> gemeint, Herois verhalte sich zu Heros wie Aeneis zu Aeneas und <lb n="pwa_127.004"/> bezeichne ein Gedicht, das von Helden handle; deshalb und in diesem <lb n="pwa_127.005"/> Sinne hat man die Gedichte selbst Heroiden genannt und daneben <lb n="pwa_127.006"/> auch die deutsche Uebersetzung Heldenbrief gebraucht. Aber auch <lb n="pwa_127.007"/> ohne diese Heroiden, die man also erst dem Ovid abgelernt hat, ist <lb n="pwa_127.008"/> die objectiv epische Lyrik in Deutschland von jeher zu Hause gewesen; <lb n="pwa_127.009"/> auch bei neueren Dichtern findet sich genug der Art. Als Beispiel <lb n="pwa_127.010"/> ist eines der bekanntesten und besten Gedichte des Grafen von <lb n="pwa_127.011"/> Platen zu nennen, der Pilgrim von St. Just (LB. 2, 1727). Das epische <lb n="pwa_127.012"/> Motiv ist Karl V., wie er die Krone niederlegt und ins Kloster geht: <lb n="pwa_127.013"/> das wird aber nicht erzählt, der Dichter legt auch nicht seine <lb n="pwa_127.014"/> subjectiven Empfindungen dar, sondern er versetzt sich mit den Empfindungen, <lb n="pwa_127.015"/> welche diess Ereigniss anregen kann, in die Seele des Handelnden <lb n="pwa_127.016"/> selbst, er legt sie als Selbstgespräch Karl V. in den Mund.</p> <p><lb n="pwa_127.017"/> Wenn nun das Motiv kein ganz eigentlich episches ist, keine <lb n="pwa_127.018"/> Thatsache, kein Ereigniss, kurz, nichts historisch Bewegtes, sondern <lb n="pwa_127.019"/> überhaupt nur eine äussere Wirklichkeit, äussere Umstände und <lb n="pwa_127.020"/> Zustände, in die aber der Dichter seine Empfindungen objectiv überträgt, <lb n="pwa_127.021"/> so ergiebt sich daraus die <hi rendition="#b">mimische</hi> Poesie, so genannt, weil <lb n="pwa_127.022"/> diess Versetzen in fremde Individualität und fremde Umstände die <lb n="pwa_127.023"/> grösste nachahmende Treue in Auffassung und Darstellung verlangt. <lb n="pwa_127.024"/> Dergleichen mimische Dichtungen finden sich gleichfalls, und diese ganz <lb n="pwa_127.025"/> besonders häufig, in der deutschen Poesie: wir dürfen darin eine <lb n="pwa_127.026"/> Nachwirkung des alten epischen Hanges erblicken. Beispiele bei <lb n="pwa_127.027"/> Göthe: der Goldschmiedsgesell u. a.; bei Uhland: Lied eines Armen, <lb n="pwa_127.028"/> Schäfers Sonntagslied, des Knaben Berglied, der Schmied, Jägerlied, <lb n="pwa_127.029"/> des Hirten Winterlied, Lied des Gefangenen u. s. f. Da die Wirklichkeit, <lb n="pwa_127.030"/> welche hier das Motiv abgiebt, keine historisch bewegte, sondern <lb n="pwa_127.031"/> eine ruhende ist, so muss natürlich die mimische Poesie sehr leicht <lb n="pwa_127.032"/> in das Gebiet der Idylle hinüberstreifen: in dieser Haltung erscheint <lb n="pwa_127.033"/> sie denn auch gewöhnlich bei solchen Dichtern, die auch sonst Idylliker <lb n="pwa_127.034"/> sind, wie z. B. bei Voss und Hebel.</p> <p><lb n="pwa_127.035"/> In den bisher besprochenen Arten von epischer Lyrik fliessen die <lb n="pwa_127.036"/> epische Wirklichkeit und die lyrische Empfindung ganz in Eins; der <lb n="pwa_127.037"/> Dichter entwickelt innere Zustände, aber nicht seine eigenen oder <lb n="pwa_127.038"/> doch nicht als die seinigen, sondern als die einer fremden Individualität, <lb n="pwa_127.039"/> und bedingt und hervorgerufen durch eine Wirklichkeit, in welcher <lb n="pwa_127.040"/> er selbst sich nicht befindet, in welche er sich nur durch die <lb n="pwa_127.041"/> Einbildungskraft versetzt.</p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [127/0145]
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aber den Namen missverstanden und verdreht: statt unter Heroides pwa_127.002
Heroinnen, Heldinnen, episch berühmte Weiber zu verstehn, hat man pwa_127.003
gemeint, Herois verhalte sich zu Heros wie Aeneis zu Aeneas und pwa_127.004
bezeichne ein Gedicht, das von Helden handle; deshalb und in diesem pwa_127.005
Sinne hat man die Gedichte selbst Heroiden genannt und daneben pwa_127.006
auch die deutsche Uebersetzung Heldenbrief gebraucht. Aber auch pwa_127.007
ohne diese Heroiden, die man also erst dem Ovid abgelernt hat, ist pwa_127.008
die objectiv epische Lyrik in Deutschland von jeher zu Hause gewesen; pwa_127.009
auch bei neueren Dichtern findet sich genug der Art. Als Beispiel pwa_127.010
ist eines der bekanntesten und besten Gedichte des Grafen von pwa_127.011
Platen zu nennen, der Pilgrim von St. Just (LB. 2, 1727). Das epische pwa_127.012
Motiv ist Karl V., wie er die Krone niederlegt und ins Kloster geht: pwa_127.013
das wird aber nicht erzählt, der Dichter legt auch nicht seine pwa_127.014
subjectiven Empfindungen dar, sondern er versetzt sich mit den Empfindungen, pwa_127.015
welche diess Ereigniss anregen kann, in die Seele des Handelnden pwa_127.016
selbst, er legt sie als Selbstgespräch Karl V. in den Mund.
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Wenn nun das Motiv kein ganz eigentlich episches ist, keine pwa_127.018
Thatsache, kein Ereigniss, kurz, nichts historisch Bewegtes, sondern pwa_127.019
überhaupt nur eine äussere Wirklichkeit, äussere Umstände und pwa_127.020
Zustände, in die aber der Dichter seine Empfindungen objectiv überträgt, pwa_127.021
so ergiebt sich daraus die mimische Poesie, so genannt, weil pwa_127.022
diess Versetzen in fremde Individualität und fremde Umstände die pwa_127.023
grösste nachahmende Treue in Auffassung und Darstellung verlangt. pwa_127.024
Dergleichen mimische Dichtungen finden sich gleichfalls, und diese ganz pwa_127.025
besonders häufig, in der deutschen Poesie: wir dürfen darin eine pwa_127.026
Nachwirkung des alten epischen Hanges erblicken. Beispiele bei pwa_127.027
Göthe: der Goldschmiedsgesell u. a.; bei Uhland: Lied eines Armen, pwa_127.028
Schäfers Sonntagslied, des Knaben Berglied, der Schmied, Jägerlied, pwa_127.029
des Hirten Winterlied, Lied des Gefangenen u. s. f. Da die Wirklichkeit, pwa_127.030
welche hier das Motiv abgiebt, keine historisch bewegte, sondern pwa_127.031
eine ruhende ist, so muss natürlich die mimische Poesie sehr leicht pwa_127.032
in das Gebiet der Idylle hinüberstreifen: in dieser Haltung erscheint pwa_127.033
sie denn auch gewöhnlich bei solchen Dichtern, die auch sonst Idylliker pwa_127.034
sind, wie z. B. bei Voss und Hebel.
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In den bisher besprochenen Arten von epischer Lyrik fliessen die pwa_127.036
epische Wirklichkeit und die lyrische Empfindung ganz in Eins; der pwa_127.037
Dichter entwickelt innere Zustände, aber nicht seine eigenen oder pwa_127.038
doch nicht als die seinigen, sondern als die einer fremden Individualität, pwa_127.039
und bedingt und hervorgerufen durch eine Wirklichkeit, in welcher pwa_127.040
er selbst sich nicht befindet, in welche er sich nur durch die pwa_127.041
Einbildungskraft versetzt.
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