Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_126.001 pwa_126.004 pwa_126.001 pwa_126.004 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0144" n="126"/><lb n="pwa_126.001"/> Motiv und ohne lehrhaften Zweck. Jede dieser drei Arten ist nun <lb n="pwa_126.002"/> noch im Einzelnen näher zu betrachten. Wir beginnen mit der epischen <lb n="pwa_126.003"/> Lyrik, der <hi rendition="#b">Lyrik der Einbildungskraft.</hi></p> <p><lb n="pwa_126.004"/> Indem der Dichter die lyrische Entwickelung innerer Zustände an <lb n="pwa_126.005"/> ein äusserlich gegebenes episches Motiv anknüpft, kann er auf zwiefache <lb n="pwa_126.006"/> Weise verfahren. Erstens versetzt er sich ganz und gar mitten <lb n="pwa_126.007"/> in die epische Wirklichkeit hinein, so dass nicht er selbst es ist, <lb n="pwa_126.008"/> welcher die angeregten Empfindungen ausspricht, sondern dass er <lb n="pwa_126.009"/> seine Worte der Person in die Seele und in den Mund legt, die handelnd <lb n="pwa_126.010"/> oder leidend der tragende Mittelpunct jener Wirklichkeit ist. <lb n="pwa_126.011"/> Wir wollen diess Verfahren das objective nennen. Durch ihre Objectivität <lb n="pwa_126.012"/> schliessen sich dergleichen lyrische Dichtungen auf das engste an <lb n="pwa_126.013"/> die lyrische Epik an; sie sind auch, historisch betrachtet, unmittelbar <lb n="pwa_126.014"/> aus der letztern hervorgegangen. Wir haben es als eine gewöhnliche <lb n="pwa_126.015"/> Beschaffenheit lyrisch-epischer Lieder kennen lernen, dass sie ganz <lb n="pwa_126.016"/> kurz eine epische Situation hinstellen und dann die epische Person <lb n="pwa_126.017"/> die Empfindungen aussprechen lassen, welche durch jene Umstände <lb n="pwa_126.018"/> motiviert sind. Ein Beispiel der Art aus der Mitte des zwölften Jahrhunderts <lb n="pwa_126.019"/> bietet jenes Lied Dietmars von Aist (S. 95). Nimmt man <lb n="pwa_126.020"/> diese epische Situation fort, durch welche dergleichen Dichtungen <lb n="pwa_126.021"/> noch innerhalb der Epik festgehalten werden, und giebt man bloss <lb n="pwa_126.022"/> in jener objectiven Weise den Ausdruck der inneren Zustände, so <lb n="pwa_126.023"/> entsteht die Art von epischer Lyrik, die wir hier besprechen, die <lb n="pwa_126.024"/> lyrische Auffassung und Ausführung einer epischen Situation. Dergleichen <lb n="pwa_126.025"/> Lieder finden wir bald nach Dietmar von Aist; ja beinahe <lb n="pwa_126.026"/> gleichzeitig mit ihm bei nur wenig späteren Dichtern, beim Kürnberger, <lb n="pwa_126.027"/> bei Reinmar dem Alten (LB. 1<hi rendition="#sup">4</hi>, 331. 1<hi rendition="#sup">5</hi>, 509; Litt. Gesch. S. 240, Anm. 10). <lb n="pwa_126.028"/> Häufig sind es klagende Liebeslieder, aber keine des Dichters, sondern <lb n="pwa_126.029"/> eines Weibes, in dessen Seele der Dichter sich versetzt; das <lb n="pwa_126.030"/> epische Motiv wird nicht besonders dargestellt, weil es sich aus den <lb n="pwa_126.031"/> lyrischen Worten leichtlich von selbst ergiebt. Den Griechen und <lb n="pwa_126.032"/> Römern scheint diese objective Art der epischen Lyrik minder bekannt <lb n="pwa_126.033"/> gewesen zu sein; das bedeutendste Beispiel gehört einer späten Zeit <lb n="pwa_126.034"/> an, die <hi rendition="#b">Heroides</hi> des Ovid, Briefe, die von berühmten Liebhaberinnen <lb n="pwa_126.035"/> an ihre entfernten Liebhaber gerichtet werden, z. B. von Deïanira an <lb n="pwa_126.036"/> Hercules, nebst etlichen Gegenbriefen ihrer Liebhaber: den Inhalt <lb n="pwa_126.037"/> macht die Entwickelung innerer Zustände; die epische Grundlage derselben <lb n="pwa_126.038"/> wird theils als bekannt vorausgesetzt, theils ist sie aus den <lb n="pwa_126.039"/> inneren Zuständen zu errathen. Seit dem siebzehnten Jahrhundert, <lb n="pwa_126.040"/> seit Christian Hofmann von Hofmannswaldau und anderen hat man <lb n="pwa_126.041"/> diese Art hin und wieder auch in Deutschland nachgeahmt, zugleich </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [126/0144]
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Motiv und ohne lehrhaften Zweck. Jede dieser drei Arten ist nun pwa_126.002
noch im Einzelnen näher zu betrachten. Wir beginnen mit der epischen pwa_126.003
Lyrik, der Lyrik der Einbildungskraft.
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Indem der Dichter die lyrische Entwickelung innerer Zustände an pwa_126.005
ein äusserlich gegebenes episches Motiv anknüpft, kann er auf zwiefache pwa_126.006
Weise verfahren. Erstens versetzt er sich ganz und gar mitten pwa_126.007
in die epische Wirklichkeit hinein, so dass nicht er selbst es ist, pwa_126.008
welcher die angeregten Empfindungen ausspricht, sondern dass er pwa_126.009
seine Worte der Person in die Seele und in den Mund legt, die handelnd pwa_126.010
oder leidend der tragende Mittelpunct jener Wirklichkeit ist. pwa_126.011
Wir wollen diess Verfahren das objective nennen. Durch ihre Objectivität pwa_126.012
schliessen sich dergleichen lyrische Dichtungen auf das engste an pwa_126.013
die lyrische Epik an; sie sind auch, historisch betrachtet, unmittelbar pwa_126.014
aus der letztern hervorgegangen. Wir haben es als eine gewöhnliche pwa_126.015
Beschaffenheit lyrisch-epischer Lieder kennen lernen, dass sie ganz pwa_126.016
kurz eine epische Situation hinstellen und dann die epische Person pwa_126.017
die Empfindungen aussprechen lassen, welche durch jene Umstände pwa_126.018
motiviert sind. Ein Beispiel der Art aus der Mitte des zwölften Jahrhunderts pwa_126.019
bietet jenes Lied Dietmars von Aist (S. 95). Nimmt man pwa_126.020
diese epische Situation fort, durch welche dergleichen Dichtungen pwa_126.021
noch innerhalb der Epik festgehalten werden, und giebt man bloss pwa_126.022
in jener objectiven Weise den Ausdruck der inneren Zustände, so pwa_126.023
entsteht die Art von epischer Lyrik, die wir hier besprechen, die pwa_126.024
lyrische Auffassung und Ausführung einer epischen Situation. Dergleichen pwa_126.025
Lieder finden wir bald nach Dietmar von Aist; ja beinahe pwa_126.026
gleichzeitig mit ihm bei nur wenig späteren Dichtern, beim Kürnberger, pwa_126.027
bei Reinmar dem Alten (LB. 14, 331. 15, 509; Litt. Gesch. S. 240, Anm. 10). pwa_126.028
Häufig sind es klagende Liebeslieder, aber keine des Dichters, sondern pwa_126.029
eines Weibes, in dessen Seele der Dichter sich versetzt; das pwa_126.030
epische Motiv wird nicht besonders dargestellt, weil es sich aus den pwa_126.031
lyrischen Worten leichtlich von selbst ergiebt. Den Griechen und pwa_126.032
Römern scheint diese objective Art der epischen Lyrik minder bekannt pwa_126.033
gewesen zu sein; das bedeutendste Beispiel gehört einer späten Zeit pwa_126.034
an, die Heroides des Ovid, Briefe, die von berühmten Liebhaberinnen pwa_126.035
an ihre entfernten Liebhaber gerichtet werden, z. B. von Deïanira an pwa_126.036
Hercules, nebst etlichen Gegenbriefen ihrer Liebhaber: den Inhalt pwa_126.037
macht die Entwickelung innerer Zustände; die epische Grundlage derselben pwa_126.038
wird theils als bekannt vorausgesetzt, theils ist sie aus den pwa_126.039
inneren Zuständen zu errathen. Seit dem siebzehnten Jahrhundert, pwa_126.040
seit Christian Hofmann von Hofmannswaldau und anderen hat man pwa_126.041
diese Art hin und wieder auch in Deutschland nachgeahmt, zugleich
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