Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_130.001 pwa_130.030 pwa_130.001 pwa_130.030 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0148" n="130"/><lb n="pwa_130.001"/> sie den gleichen Namen als die epischen Gesänge, nämlich <foreign xml:lang="grc">ἔπη</foreign>: so nannte <lb n="pwa_130.002"/> noch Solon selber seine elegischen Dichtungen. Dann aber trat ein <lb n="pwa_130.003"/> andrer an dessen Stelle, der jedoch nicht minder aus der alten epischen <lb n="pwa_130.004"/> Zeit herrührt. Wir haben früher als eine Hauptgattung der lyrischen <lb n="pwa_130.005"/> Epik, als eine epische Gelegenheitspoesie der Griechen die Threnen <lb n="pwa_130.006"/> kennen gelernt (S. 92); eine besondre Art solcher Threnen hiess <foreign xml:lang="grc">ἔλεγος</foreign>. <lb n="pwa_130.007"/> Dieses Wort, welches eine kindische Etymologie von <foreign xml:lang="grc">͗ὲ ͗ὲ λέγειν</foreign>, weh <lb n="pwa_130.008"/> weh rufen, herleitet, gehört zu derselben Wurzel wie <foreign xml:lang="grc">ἔλεος</foreign>, Mitleid, <lb n="pwa_130.009"/> <foreign xml:lang="grc">ἐλεέω</foreign>, bejammern, <foreign xml:lang="grc">ἐλελεῦ</foreign> und mit Ablaut <foreign xml:lang="grc">ἀλαλά</foreign>, ein Kriegsgeschrei, <lb n="pwa_130.010"/> <foreign xml:lang="grc">ὀλολύζω</foreign>, klagen, jammern, namentlich zu den Göttern empor; das <foreign xml:lang="grc">γ</foreign> <lb n="pwa_130.011"/> von <foreign xml:lang="grc">ἔλεγος</foreign> findet sich auch in <foreign xml:lang="grc">ἀλαλαγή</foreign> und <foreign xml:lang="grc">ὀλολυγή</foreign>. Solche <foreign xml:lang="grc">ἔλεγοι</foreign>, <lb n="pwa_130.012"/> Klagelieder, wurden mit Begleitung der Flöte gesungen, wie die <lb n="pwa_130.013"/> Nenien der Römer; die characteristische Versart war der Pentameter, <lb n="pwa_130.014"/> vielleicht mit dem Hexameter, vielleicht mit andern Versen gemischt, <lb n="pwa_130.015"/> vielleicht ohne alle Beimischung für sich bestehend. Eine Ableitung <lb n="pwa_130.016"/> von <foreign xml:lang="grc">ἔλεγος</foreign> ist <foreign xml:lang="grc">ἐλεγεῖον</foreign>, das vielleicht ursprünglich nur der Name des <lb n="pwa_130.017"/> Pentameters ist, sicherlich aber und jedesfalls einer aus Hexameter <lb n="pwa_130.018"/> und Pentameter zusammengesetzten Strophe, also des sonst s. g. Distichons. <lb n="pwa_130.019"/> Die neue Dichtungsart nun, die Elegie, theilte mit dem alten <lb n="pwa_130.020"/> <foreign xml:lang="grc">ἔλεγος</foreign> die Anlehnung an die epische Wirklichkeit, sie sprach auch <lb n="pwa_130.021"/> nicht selten schmerzliche Gefühle aus, sie entlehnte von dem <foreign xml:lang="grc">ἔλεγος</foreign> <lb n="pwa_130.022"/> den Gebrauch des Distichons sammt der mit dem Gesange verbundenen <lb n="pwa_130.023"/> Flötenbegleitung. Alles diess war Anlass, jene von <foreign xml:lang="grc">ἔλεγος</foreign> gebildete <lb n="pwa_130.024"/> Ableitung <foreign xml:lang="grc">ἐλεγεῖον</foreign> nun in einem weiteren Sinne zu gebrauchen: es <lb n="pwa_130.025"/> ward nun eben jedes episch-lyrische Gedicht in der Form des Distichons <lb n="pwa_130.026"/> <foreign xml:lang="grc">ἐλεγεια</foreign> genannt, entweder als plur. neutr. <foreign xml:lang="grc">τὰ ἐλεγεῖα</foreign> oder als <lb n="pwa_130.027"/> sing. fem. <foreign xml:lang="grc">ἡ ἐλεγεία</foreign>. Also finden wir auch in den Benennungen eine <lb n="pwa_130.028"/> Rückbeziehung auf die Epik: in der älteren <foreign xml:lang="grc">ἔπη</foreign> auf die reine eigentliche, <lb n="pwa_130.029"/> in der späteren <foreign xml:lang="grc">ἐλεγεία</foreign> auf die lyrisch gefärbte, den <foreign xml:lang="grc">ἔλεγος</foreign>.</p> <p><lb n="pwa_130.030"/> Aber auch in dem Entwickelungsgange, den die Elegie genommen, <lb n="pwa_130.031"/> zeigt sich ihr enger Zusammenhang mit der Epik. Auf den ersten <lb n="pwa_130.032"/> Stufen, nachdem sie entsprungen, tritt in dem lyrischen Theile kaum <lb n="pwa_130.033"/> schon eine persönliche Individualität heraus; es ist zwar eine Individualität <lb n="pwa_130.034"/> vorhanden und nicht mehr die allgemein gültige Nationalität <lb n="pwa_130.035"/> der Epik, aber noch nicht die Individualität des einzelnen Dichters, <lb n="pwa_130.036"/> sondern die des Volksstammes, der Insel, der Stadt, also eine nationale <lb n="pwa_130.037"/> Individualität: immer noch ein Theil der altepischen Anschauungsweise. <lb n="pwa_130.038"/> Die politische Gegenwart, das Staatsleben, das den Dichter <lb n="pwa_130.039"/> umgab, die Kämpfe nach aussen und im Innern, dergleichen bildete <lb n="pwa_130.040"/> den epischen Grund, auf welchem nun die lyrische Betrachtung sich <lb n="pwa_130.041"/> entfaltete; diess war aber keine Betrachtung vom Standpuncte des </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [130/0148]
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sie den gleichen Namen als die epischen Gesänge, nämlich ἔπη: so nannte pwa_130.002
noch Solon selber seine elegischen Dichtungen. Dann aber trat ein pwa_130.003
andrer an dessen Stelle, der jedoch nicht minder aus der alten epischen pwa_130.004
Zeit herrührt. Wir haben früher als eine Hauptgattung der lyrischen pwa_130.005
Epik, als eine epische Gelegenheitspoesie der Griechen die Threnen pwa_130.006
kennen gelernt (S. 92); eine besondre Art solcher Threnen hiess ἔλεγος. pwa_130.007
Dieses Wort, welches eine kindische Etymologie von ͗ὲ ͗ὲ λέγειν, weh pwa_130.008
weh rufen, herleitet, gehört zu derselben Wurzel wie ἔλεος, Mitleid, pwa_130.009
ἐλεέω, bejammern, ἐλελεῦ und mit Ablaut ἀλαλά, ein Kriegsgeschrei, pwa_130.010
ὀλολύζω, klagen, jammern, namentlich zu den Göttern empor; das γ pwa_130.011
von ἔλεγος findet sich auch in ἀλαλαγή und ὀλολυγή. Solche ἔλεγοι, pwa_130.012
Klagelieder, wurden mit Begleitung der Flöte gesungen, wie die pwa_130.013
Nenien der Römer; die characteristische Versart war der Pentameter, pwa_130.014
vielleicht mit dem Hexameter, vielleicht mit andern Versen gemischt, pwa_130.015
vielleicht ohne alle Beimischung für sich bestehend. Eine Ableitung pwa_130.016
von ἔλεγος ist ἐλεγεῖον, das vielleicht ursprünglich nur der Name des pwa_130.017
Pentameters ist, sicherlich aber und jedesfalls einer aus Hexameter pwa_130.018
und Pentameter zusammengesetzten Strophe, also des sonst s. g. Distichons. pwa_130.019
Die neue Dichtungsart nun, die Elegie, theilte mit dem alten pwa_130.020
ἔλεγος die Anlehnung an die epische Wirklichkeit, sie sprach auch pwa_130.021
nicht selten schmerzliche Gefühle aus, sie entlehnte von dem ἔλεγος pwa_130.022
den Gebrauch des Distichons sammt der mit dem Gesange verbundenen pwa_130.023
Flötenbegleitung. Alles diess war Anlass, jene von ἔλεγος gebildete pwa_130.024
Ableitung ἐλεγεῖον nun in einem weiteren Sinne zu gebrauchen: es pwa_130.025
ward nun eben jedes episch-lyrische Gedicht in der Form des Distichons pwa_130.026
ἐλεγεια genannt, entweder als plur. neutr. τὰ ἐλεγεῖα oder als pwa_130.027
sing. fem. ἡ ἐλεγεία. Also finden wir auch in den Benennungen eine pwa_130.028
Rückbeziehung auf die Epik: in der älteren ἔπη auf die reine eigentliche, pwa_130.029
in der späteren ἐλεγεία auf die lyrisch gefärbte, den ἔλεγος.
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Aber auch in dem Entwickelungsgange, den die Elegie genommen, pwa_130.031
zeigt sich ihr enger Zusammenhang mit der Epik. Auf den ersten pwa_130.032
Stufen, nachdem sie entsprungen, tritt in dem lyrischen Theile kaum pwa_130.033
schon eine persönliche Individualität heraus; es ist zwar eine Individualität pwa_130.034
vorhanden und nicht mehr die allgemein gültige Nationalität pwa_130.035
der Epik, aber noch nicht die Individualität des einzelnen Dichters, pwa_130.036
sondern die des Volksstammes, der Insel, der Stadt, also eine nationale pwa_130.037
Individualität: immer noch ein Theil der altepischen Anschauungsweise. pwa_130.038
Die politische Gegenwart, das Staatsleben, das den Dichter pwa_130.039
umgab, die Kämpfe nach aussen und im Innern, dergleichen bildete pwa_130.040
den epischen Grund, auf welchem nun die lyrische Betrachtung sich pwa_130.041
entfaltete; diess war aber keine Betrachtung vom Standpuncte des
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