Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_138.001 pwa_138.015 pwa_138.028 pwa_138.001 pwa_138.015 pwa_138.028 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0156" n="138"/><lb n="pwa_138.001"/> Elegien der Griechen. Sodann treten uns die Empfindungen der Trauer <lb n="pwa_138.002"/> in den verschiedensten Farben und Graden entgegen, von dem bittersten <lb n="pwa_138.003"/> Schmerze, der an Verzweiflung grenzt, bis zur Wehmuth, die <lb n="pwa_138.004"/> aus dem Leidenskelche zugleich den Trost kostet. Der Gedankengang <lb n="pwa_138.005"/> aber ist eben der, welchen wir als den der Elegie eigenthümlichen <lb n="pwa_138.006"/> gefunden haben. So verhält es sich namentlich in dem Klageliede, <lb n="pwa_138.007"/> welches das dritte Capitel bildet. Unpassend genug ist es, dass diese <lb n="pwa_138.008"/> Gedichte des Jeremias in griechischer und lateinischer Uebersetzung <lb n="pwa_138.009"/> Threni heissen; denn die <foreign xml:lang="grc">θρῆνοι</foreign> waren Klagelieder auf bestimmte <lb n="pwa_138.010"/> einzelne Verstorbene, und für Threnen sind diese hebräischen Gesänge <lb n="pwa_138.011"/> auch nicht episch genug und nicht genug episch einfach. Es sind <lb n="pwa_138.012"/> eben durchaus Elegien, und wäre Jeremias ein Grieche gewesen, <lb n="pwa_138.013"/> gewiss würde er auch keine andre Form als die der Elegie zur <lb n="pwa_138.014"/> Anwendung gebracht haben.</p> <p><lb n="pwa_138.015"/> Unmittelbar an die Betrachtung der Elegie schliessen wir die <lb n="pwa_138.016"/> einer andern Dichtungsart, die mit ihr auf das engste und innigste <lb n="pwa_138.017"/> verbunden ist, die des <hi rendition="#b">Epigramms.</hi> Desjenigen Epigramms nämlich, <lb n="pwa_138.018"/> das den Griechen eigenthümlich ist, das die Römer meistentheils haben <lb n="pwa_138.019"/> bei Seite liegen lassen, das auch die deutsche Litteratur erst seit <lb n="pwa_138.020"/> Herder und Göthe kennt, das <hi rendition="#b">Epigramm der Empfindung:</hi> denn nur <lb n="pwa_138.021"/> diess ist episch-lyrischer Natur. Die Art von Epigramm, die wir <lb n="pwa_138.022"/> vor jenen Dichtern besessen, in der sich auch die Römer beinahe <lb n="pwa_138.023"/> ausschliesslich gefallen haben, die aber bei den Griechen nur spärlich <lb n="pwa_138.024"/> und erst in späteren Zeiten vorkommt, das Epigramm der Lehre, <lb n="pwa_138.025"/> namentlich das durch Spott lehrende, das satirische, gehört zur didactischen <lb n="pwa_138.026"/> Lyrik, und das werden wir erst dort als eine weitre, halb <lb n="pwa_138.027"/> prosaische Umgestaltung des episch-lyrischen behandeln.</p> <p><lb n="pwa_138.028"/> Das Epigramm hat, wie das schon sein Name <foreign xml:lang="grc">ἐπίγραμμα</foreign>, Aufschrift, <lb n="pwa_138.029"/> Inschrift andeutet, seinen Ursprung aus der Sitte genommen, <lb n="pwa_138.030"/> Denkmäler, die man setzte, Weihgeschenke, die man den Göttern <lb n="pwa_138.031"/> widmete u. s. w., mit einer Inschrift zu versehen, die den Namen <lb n="pwa_138.032"/> des Weihenden oder dessen, dem das Denkmal gesetzt war, enthielt <lb n="pwa_138.033"/> sammt historischen Notizen über den einen oder den andern, wozu <lb n="pwa_138.034"/> dann noch, damit die Inschrift rechten Inhalt und auch sie einen <lb n="pwa_138.035"/> künstlerischen Sinn und Werth besitze, eine Andeutung der Empfindungen <lb n="pwa_138.036"/> kam, welche der Anblick des Denkmals, die Nennung <lb n="pwa_138.037"/> dieser Namen u. s. f. erregte. Namentlich waren es die Gräber, die <lb n="pwa_138.038"/> man mit solchen halb erzählenden, halb empfindungsvollen Inschriften, <lb n="pwa_138.039"/> mit Worten der Erinnerung an den Todten und der Klage über seinen <lb n="pwa_138.040"/> Verlust poetisch ausschmückte. Auch für andre Kunstwerke, Werke <lb n="pwa_138.041"/> der Plastik und der Malerei, pflegte man solche Epigramme zu </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [138/0156]
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Elegien der Griechen. Sodann treten uns die Empfindungen der Trauer pwa_138.002
in den verschiedensten Farben und Graden entgegen, von dem bittersten pwa_138.003
Schmerze, der an Verzweiflung grenzt, bis zur Wehmuth, die pwa_138.004
aus dem Leidenskelche zugleich den Trost kostet. Der Gedankengang pwa_138.005
aber ist eben der, welchen wir als den der Elegie eigenthümlichen pwa_138.006
gefunden haben. So verhält es sich namentlich in dem Klageliede, pwa_138.007
welches das dritte Capitel bildet. Unpassend genug ist es, dass diese pwa_138.008
Gedichte des Jeremias in griechischer und lateinischer Uebersetzung pwa_138.009
Threni heissen; denn die θρῆνοι waren Klagelieder auf bestimmte pwa_138.010
einzelne Verstorbene, und für Threnen sind diese hebräischen Gesänge pwa_138.011
auch nicht episch genug und nicht genug episch einfach. Es sind pwa_138.012
eben durchaus Elegien, und wäre Jeremias ein Grieche gewesen, pwa_138.013
gewiss würde er auch keine andre Form als die der Elegie zur pwa_138.014
Anwendung gebracht haben.
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Unmittelbar an die Betrachtung der Elegie schliessen wir die pwa_138.016
einer andern Dichtungsart, die mit ihr auf das engste und innigste pwa_138.017
verbunden ist, die des Epigramms. Desjenigen Epigramms nämlich, pwa_138.018
das den Griechen eigenthümlich ist, das die Römer meistentheils haben pwa_138.019
bei Seite liegen lassen, das auch die deutsche Litteratur erst seit pwa_138.020
Herder und Göthe kennt, das Epigramm der Empfindung: denn nur pwa_138.021
diess ist episch-lyrischer Natur. Die Art von Epigramm, die wir pwa_138.022
vor jenen Dichtern besessen, in der sich auch die Römer beinahe pwa_138.023
ausschliesslich gefallen haben, die aber bei den Griechen nur spärlich pwa_138.024
und erst in späteren Zeiten vorkommt, das Epigramm der Lehre, pwa_138.025
namentlich das durch Spott lehrende, das satirische, gehört zur didactischen pwa_138.026
Lyrik, und das werden wir erst dort als eine weitre, halb pwa_138.027
prosaische Umgestaltung des episch-lyrischen behandeln.
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Das Epigramm hat, wie das schon sein Name ἐπίγραμμα, Aufschrift, pwa_138.029
Inschrift andeutet, seinen Ursprung aus der Sitte genommen, pwa_138.030
Denkmäler, die man setzte, Weihgeschenke, die man den Göttern pwa_138.031
widmete u. s. w., mit einer Inschrift zu versehen, die den Namen pwa_138.032
des Weihenden oder dessen, dem das Denkmal gesetzt war, enthielt pwa_138.033
sammt historischen Notizen über den einen oder den andern, wozu pwa_138.034
dann noch, damit die Inschrift rechten Inhalt und auch sie einen pwa_138.035
künstlerischen Sinn und Werth besitze, eine Andeutung der Empfindungen pwa_138.036
kam, welche der Anblick des Denkmals, die Nennung pwa_138.037
dieser Namen u. s. f. erregte. Namentlich waren es die Gräber, die pwa_138.038
man mit solchen halb erzählenden, halb empfindungsvollen Inschriften, pwa_138.039
mit Worten der Erinnerung an den Todten und der Klage über seinen pwa_138.040
Verlust poetisch ausschmückte. Auch für andre Kunstwerke, Werke pwa_138.041
der Plastik und der Malerei, pflegte man solche Epigramme zu
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