Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_140.001 pwa_140.032 pwa_140.001 pwa_140.032 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0158" n="140"/><lb n="pwa_140.001"/> dass es beide Theile schärfer getrennt aus einander halte, den epischen <lb n="pwa_140.002"/> und den lyrischen, den objectiven und den subjectiven, den episch <lb n="pwa_140.003"/> darlegenden, der die Theilnahme anspricht, und den empfindsam ausdeutenden, <lb n="pwa_140.004"/> der die Theilnahme befriedigt: man unterscheidet auch <lb n="pwa_140.005"/> beide mit besondern Namen und nennt den einen Theil expositio oder <lb n="pwa_140.006"/> indicatio oder narratio, und den andern clausula oder conclusio. Und <lb n="pwa_140.007"/> während die Elegie zum Object ihrer lyrischen Betrachtungen nicht <lb n="pwa_140.008"/> gern einen geschichtlichen Verlauf der Vergangenheit nimmt, weil ein <lb n="pwa_140.009"/> solcher für die subjective Lyrik zu episch wäre, darf die Exposition <lb n="pwa_140.010"/> des Epigramms sehr wohl der fernsten und fremdesten Vergangenheit <lb n="pwa_140.011"/> angehören: denn es kann doch immer nur Eine Thatsache sein, und <lb n="pwa_140.012"/> es wird hier keine so innige Verbindung mit dem lyrischen Elemente <lb n="pwa_140.013"/> gefordert. Diese Beschränkung des Epigramms auf Eine Thatsache <lb n="pwa_140.014"/> und Eine Empfindung verlangt Kürze der Darstellung und ein angemessenes <lb n="pwa_140.015"/> Verhältniss beider Theile: die Exposition darf weder mehr <lb n="pwa_140.016"/> exponieren, als nachher ausgedeutet wird, noch die Clausel mehr <lb n="pwa_140.017"/> ausdeuten, als vorher exponiert war. Deshalb war das Epigramm <lb n="pwa_140.018"/> ursprünglich auf den Raum eines einzigen Distichons eingeschränkt, <lb n="pwa_140.019"/> auf den epischen Hexameter, der das erzählte Object darlegte, und <lb n="pwa_140.020"/> den lyrischen Pentameter, der die daran geknüpfte Empfindung enthielt. <lb n="pwa_140.021"/> Diese Form war schon im Allgemeinen die angemessenste: da <lb n="pwa_140.022"/> war sie es noch ganz besonders, wo ein solches Distichon oder <foreign xml:lang="grc">ἐλεγεῖον</foreign> <lb n="pwa_140.023"/> als Grabschrift diente, wo es also in dem eigentlichen Masse des <lb n="pwa_140.024"/> <foreign xml:lang="grc">ἔλεγος</foreign> die Trauer über den Verstorbenen ausdrückte. So auf ein <lb n="pwa_140.025"/> Distichon, ein <foreign xml:lang="grc">ἐλεγεῖον</foreign>, eingeschränkt erscheint das Epigramm auch <lb n="pwa_140.026"/> in metrischer Beziehung als die kleinste Einheit einer ausgeführten <lb n="pwa_140.027"/> Elegie (<foreign xml:lang="grc">τὰ ἐλεγεῖα</foreign>), wie sie auch sonst zu ihr sich ungefähr in dieser <lb n="pwa_140.028"/> Art verhält. Jedoch giebt es auch Epigramme, die sich über mehrere <lb n="pwa_140.029"/> Distichen hin ausdehnen, weil trotz der Vereinzelung des factischen <lb n="pwa_140.030"/> Gegenstandes und der empfindsamen Betrachtung dennoch jener Raum <lb n="pwa_140.031"/> für eine rechte Objectivierung und Subjectivierung gar zu eng war.</p> <p><lb n="pwa_140.032"/> Epigramme der Art, wie sie eben sind beschrieben worden, <lb n="pwa_140.033"/> Epigramme der Empfindung, machen zum grössten und hauptsächlichsten <lb n="pwa_140.034"/> Theil den Inhalt der sogenannten griechischen Anthologie aus; <lb n="pwa_140.035"/> Epigramme der directen Lehre und der in Spott eingekleideten, didactische <lb n="pwa_140.036"/> und satirische Epigramme, kommen daneben nur spärlich vor. <lb n="pwa_140.037"/> Umgekehrt bei den Römern; wir Deutsche haben Jahrhunderte hindurch <lb n="pwa_140.038"/> das Epigramm der Empfindung kaum gekannt: erst durch <lb n="pwa_140.039"/> Herder und Göthe sind auch wir damit befreundet worden. Unter <lb n="pwa_140.040"/> dem Titel: Blumen aus der griechischen Anthologie gab Herder <lb n="pwa_140.041"/> 1785 eine Auswahl von Epigrammen in deutscher Uebersetzung und </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [140/0158]
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dass es beide Theile schärfer getrennt aus einander halte, den epischen pwa_140.002
und den lyrischen, den objectiven und den subjectiven, den episch pwa_140.003
darlegenden, der die Theilnahme anspricht, und den empfindsam ausdeutenden, pwa_140.004
der die Theilnahme befriedigt: man unterscheidet auch pwa_140.005
beide mit besondern Namen und nennt den einen Theil expositio oder pwa_140.006
indicatio oder narratio, und den andern clausula oder conclusio. Und pwa_140.007
während die Elegie zum Object ihrer lyrischen Betrachtungen nicht pwa_140.008
gern einen geschichtlichen Verlauf der Vergangenheit nimmt, weil ein pwa_140.009
solcher für die subjective Lyrik zu episch wäre, darf die Exposition pwa_140.010
des Epigramms sehr wohl der fernsten und fremdesten Vergangenheit pwa_140.011
angehören: denn es kann doch immer nur Eine Thatsache sein, und pwa_140.012
es wird hier keine so innige Verbindung mit dem lyrischen Elemente pwa_140.013
gefordert. Diese Beschränkung des Epigramms auf Eine Thatsache pwa_140.014
und Eine Empfindung verlangt Kürze der Darstellung und ein angemessenes pwa_140.015
Verhältniss beider Theile: die Exposition darf weder mehr pwa_140.016
exponieren, als nachher ausgedeutet wird, noch die Clausel mehr pwa_140.017
ausdeuten, als vorher exponiert war. Deshalb war das Epigramm pwa_140.018
ursprünglich auf den Raum eines einzigen Distichons eingeschränkt, pwa_140.019
auf den epischen Hexameter, der das erzählte Object darlegte, und pwa_140.020
den lyrischen Pentameter, der die daran geknüpfte Empfindung enthielt. pwa_140.021
Diese Form war schon im Allgemeinen die angemessenste: da pwa_140.022
war sie es noch ganz besonders, wo ein solches Distichon oder ἐλεγεῖον pwa_140.023
als Grabschrift diente, wo es also in dem eigentlichen Masse des pwa_140.024
ἔλεγος die Trauer über den Verstorbenen ausdrückte. So auf ein pwa_140.025
Distichon, ein ἐλεγεῖον, eingeschränkt erscheint das Epigramm auch pwa_140.026
in metrischer Beziehung als die kleinste Einheit einer ausgeführten pwa_140.027
Elegie (τὰ ἐλεγεῖα), wie sie auch sonst zu ihr sich ungefähr in dieser pwa_140.028
Art verhält. Jedoch giebt es auch Epigramme, die sich über mehrere pwa_140.029
Distichen hin ausdehnen, weil trotz der Vereinzelung des factischen pwa_140.030
Gegenstandes und der empfindsamen Betrachtung dennoch jener Raum pwa_140.031
für eine rechte Objectivierung und Subjectivierung gar zu eng war.
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Epigramme der Art, wie sie eben sind beschrieben worden, pwa_140.033
Epigramme der Empfindung, machen zum grössten und hauptsächlichsten pwa_140.034
Theil den Inhalt der sogenannten griechischen Anthologie aus; pwa_140.035
Epigramme der directen Lehre und der in Spott eingekleideten, didactische pwa_140.036
und satirische Epigramme, kommen daneben nur spärlich vor. pwa_140.037
Umgekehrt bei den Römern; wir Deutsche haben Jahrhunderte hindurch pwa_140.038
das Epigramm der Empfindung kaum gekannt: erst durch pwa_140.039
Herder und Göthe sind auch wir damit befreundet worden. Unter pwa_140.040
dem Titel: Blumen aus der griechischen Anthologie gab Herder pwa_140.041
1785 eine Auswahl von Epigrammen in deutscher Uebersetzung und
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