Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_148.001 pwa_148.027 pwa_148.030 pwa_148.001 pwa_148.027 pwa_148.030 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0166" n="148"/><lb n="pwa_148.001"/> Ebenso steht der Leich mit den s. g. Sequenzen, einer alten Art lateinischen <lb n="pwa_148.002"/> Kirchengesanges, in Zusammenhang und hat häufig genug religiösen <lb n="pwa_148.003"/> oder ernst politischen Inhalt, obgleich die meisten Dichtungen <lb n="pwa_148.004"/> dieser Art zur eigentlichen Minnepoesie gehören und von Lust und Leid <lb n="pwa_148.005"/> der Liebe handeln: vgl. die Sequentia de S. Maria LB. 1<hi rendition="#sup">4</hi>, 259 (1<hi rendition="#sup">5</hi>, 437). <lb n="pwa_148.006"/> Wir jetzt können freilich nicht recht begreifen, wie religiöse Poesie und <lb n="pwa_148.007"/> Tanz zusammenpassen: dennoch steht fest, dass die mittelhochdeutschen <lb n="pwa_148.008"/> Leiche für den Tanz bestimmt, und dass auch die religiösen Leiche <lb n="pwa_148.009"/> eben Leiche waren, und nichts weist darauf hin, dass bei solchen <lb n="pwa_148.010"/> kein Tanz stattgehabt hätte. Haben doch auch die Griechen die <lb n="pwa_148.011"/> erhabensten Festgesänge ihres Cultus mit Tanz begleitet. Wir sind <lb n="pwa_148.012"/> daher berechtigt anzunehmen, dass solche Leiche an kirchlichen Festen, <lb n="pwa_148.013"/> zwar ausserhalb der Kirche, aber doch am geheiligten Tage und mit <lb n="pwa_148.014"/> Rücksicht auf seine kirchliche Bedeutung sind gesungen worden. Auch <lb n="pwa_148.015"/> hier ist wieder Walther von der Vogelweide hervorzuheben: wir <lb n="pwa_148.016"/> besitzen von ihm zwar nur Einen Leich, aber dieser Leich hat religiösen <lb n="pwa_148.017"/> Inhalt und scheint auf das Fest der Dreieinigkeit oder ein <lb n="pwa_148.018"/> Marienfest verfasst zu sein: er geht vom Lob und Preis Gottes und <lb n="pwa_148.019"/> der Maria aus, aber auf dem religiösen Grunde ist auch eine politische <lb n="pwa_148.020"/> Farbe aufgetragen; die Entwickelung ist eine springende, wie bei <lb n="pwa_148.021"/> Pindar; (Wackernagels Walther S. 1–8). Um noch ein bezeichnendes <lb n="pwa_148.022"/> Beispiel anzuführen, mag auch des Leiches vom heiligen Grabe gedacht <lb n="pwa_148.023"/> werden, womit Heinrich von Rücke, ein Schwabe, zur Theilnahme <lb n="pwa_148.024"/> am Kreuzzuge aufforderte, als die Trauerbotschaft von dem am <lb n="pwa_148.025"/> 10. Juni 1190 erfolgten Tode Kaiser Friedrichs I. nach Deutschland <lb n="pwa_148.026"/> gelangte (LB. 1<hi rendition="#sup">4</hi>, 323. 1<hi rendition="#sup">5</hi>, 501).</p> <p><lb n="pwa_148.027"/> Die deutsche Poesie der neueren Zeit hat die Form des Leiches <lb n="pwa_148.028"/> gänzlich fallen lassen; nur Rückert hat sich derselben einmal in seinem <lb n="pwa_148.029"/> Gedichte Das Licht bedienen mögen (LB. 2, 1550).</p> <p><lb n="pwa_148.030"/> Die zuletzt erwähnte mittelalterliche Dichtungsart führt uns leicht <lb n="pwa_148.031"/> und natürlich zu einigen Bemerkungen über das <hi rendition="#b">Kirchenlied,</hi> insofern <lb n="pwa_148.032"/> auch dieses im Allgemeinen mit zur Gelegenheitspoesie gehört und <lb n="pwa_148.033"/> insbesondere und im engsten Sinne des Wortes epische Lyrik sein <lb n="pwa_148.034"/> kann. Denn es kann ja von epischen Motiven ausgehn, es kann, <lb n="pwa_148.035"/> und den Liedern für die hohen Feste ist das eigentlich recht und <lb n="pwa_148.036"/> angemessen, aus der Geschichte Jesu erzählen, von seiner Geburt, <lb n="pwa_148.037"/> seinem Leiden und Sterben, seiner Auferstehung, und an diese Erzählung <lb n="pwa_148.038"/> die Entwickelung derjenigen innern Zustände anschliessen oder jene Ereignisse <lb n="pwa_148.039"/> aus denjenigen Gefühlen heraus darstellen, die durch Betrachtung <lb n="pwa_148.040"/> derselben erweckt werden. So lange Motive der Art die einzige epische <lb n="pwa_148.041"/> Grundlage bilden, wird das Lied auch ein Kirchenlied sein: denn da </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [148/0166]
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Ebenso steht der Leich mit den s. g. Sequenzen, einer alten Art lateinischen pwa_148.002
Kirchengesanges, in Zusammenhang und hat häufig genug religiösen pwa_148.003
oder ernst politischen Inhalt, obgleich die meisten Dichtungen pwa_148.004
dieser Art zur eigentlichen Minnepoesie gehören und von Lust und Leid pwa_148.005
der Liebe handeln: vgl. die Sequentia de S. Maria LB. 14, 259 (15, 437). pwa_148.006
Wir jetzt können freilich nicht recht begreifen, wie religiöse Poesie und pwa_148.007
Tanz zusammenpassen: dennoch steht fest, dass die mittelhochdeutschen pwa_148.008
Leiche für den Tanz bestimmt, und dass auch die religiösen Leiche pwa_148.009
eben Leiche waren, und nichts weist darauf hin, dass bei solchen pwa_148.010
kein Tanz stattgehabt hätte. Haben doch auch die Griechen die pwa_148.011
erhabensten Festgesänge ihres Cultus mit Tanz begleitet. Wir sind pwa_148.012
daher berechtigt anzunehmen, dass solche Leiche an kirchlichen Festen, pwa_148.013
zwar ausserhalb der Kirche, aber doch am geheiligten Tage und mit pwa_148.014
Rücksicht auf seine kirchliche Bedeutung sind gesungen worden. Auch pwa_148.015
hier ist wieder Walther von der Vogelweide hervorzuheben: wir pwa_148.016
besitzen von ihm zwar nur Einen Leich, aber dieser Leich hat religiösen pwa_148.017
Inhalt und scheint auf das Fest der Dreieinigkeit oder ein pwa_148.018
Marienfest verfasst zu sein: er geht vom Lob und Preis Gottes und pwa_148.019
der Maria aus, aber auf dem religiösen Grunde ist auch eine politische pwa_148.020
Farbe aufgetragen; die Entwickelung ist eine springende, wie bei pwa_148.021
Pindar; (Wackernagels Walther S. 1–8). Um noch ein bezeichnendes pwa_148.022
Beispiel anzuführen, mag auch des Leiches vom heiligen Grabe gedacht pwa_148.023
werden, womit Heinrich von Rücke, ein Schwabe, zur Theilnahme pwa_148.024
am Kreuzzuge aufforderte, als die Trauerbotschaft von dem am pwa_148.025
10. Juni 1190 erfolgten Tode Kaiser Friedrichs I. nach Deutschland pwa_148.026
gelangte (LB. 14, 323. 15, 501).
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Die deutsche Poesie der neueren Zeit hat die Form des Leiches pwa_148.028
gänzlich fallen lassen; nur Rückert hat sich derselben einmal in seinem pwa_148.029
Gedichte Das Licht bedienen mögen (LB. 2, 1550).
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Die zuletzt erwähnte mittelalterliche Dichtungsart führt uns leicht pwa_148.031
und natürlich zu einigen Bemerkungen über das Kirchenlied, insofern pwa_148.032
auch dieses im Allgemeinen mit zur Gelegenheitspoesie gehört und pwa_148.033
insbesondere und im engsten Sinne des Wortes epische Lyrik sein pwa_148.034
kann. Denn es kann ja von epischen Motiven ausgehn, es kann, pwa_148.035
und den Liedern für die hohen Feste ist das eigentlich recht und pwa_148.036
angemessen, aus der Geschichte Jesu erzählen, von seiner Geburt, pwa_148.037
seinem Leiden und Sterben, seiner Auferstehung, und an diese Erzählung pwa_148.038
die Entwickelung derjenigen innern Zustände anschliessen oder jene Ereignisse pwa_148.039
aus denjenigen Gefühlen heraus darstellen, die durch Betrachtung pwa_148.040
derselben erweckt werden. So lange Motive der Art die einzige epische pwa_148.041
Grundlage bilden, wird das Lied auch ein Kirchenlied sein: denn da
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