Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_150.001 pwa_150.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <pb facs="#f0168" n="150"/> <p><lb n="pwa_150.001"/> Neben der geistlichen Gelegenheitspoesie, der epischen Lyrik der <lb n="pwa_150.002"/> Kirche hat die neuere Zeit auch die <hi rendition="#b">weltliche Gelegenheitspoesie,</hi> die <lb n="pwa_150.003"/> Gelegenheitspoesie <foreign xml:lang="grc">κατ</foreign>' <foreign xml:lang="grc">ἐξοχὴν</foreign> besonders cultiviert, und es sind namentlich <lb n="pwa_150.004"/> die beiden s. g. schlesischen Dichterschulen des siebzehnten Jahrhunderts, <lb n="pwa_150.005"/> welche auf diesem Felde, wenn auch nicht viel geerntet, <lb n="pwa_150.006"/> doch wenigstens fleissig geackert haben; ja es giebt Dichter, von denen <lb n="pwa_150.007"/> faustdicke Bände auf uns gekommen sind, die kaum etwas andres <lb n="pwa_150.008"/> enthalten als Gelegenheitsgedichte, wie z. B. Christian Gryphius <lb n="pwa_150.009"/> (LB. 2, 529). Man darf die Gelegenheitspoesie keinesweges im Allgemeinen <lb n="pwa_150.010"/> verwerfen; denn es ist ein ganz lobenswerthes Streben, Jedwedes, <lb n="pwa_150.011"/> das geschieht, poetisch verschönen zu wollen: es hat auch <lb n="pwa_150.012"/> von jeher Gelegenheitspoesie gegeben, und die schönsten Dichtungen der <lb n="pwa_150.013"/> provenzalischen, der französischen, der italiänischen und der deutschen <lb n="pwa_150.014"/> Lyrik des Mittelalters sind oft im Grunde weiter nichts als Gelegenheitsgedichte. <lb n="pwa_150.015"/> Aber man muss es auch zu machen verstehn, wie z. B. <lb n="pwa_150.016"/> Walther von der Vogelweide, d. h. man muss einmal solche gelegenheitliche <lb n="pwa_150.017"/> Motive ergreifen, denen sich eine poetische Seite abgewinnen <lb n="pwa_150.018"/> lässt, und man muss dann auch diese poetische Seite herauszukehren <lb n="pwa_150.019"/> wissen. Es ist aber schwer, dem eine poetische Seite abzugewinnen, <lb n="pwa_150.020"/> wenn Hinz heirathet und Kunz taufen lässt oder begraben wird, und <lb n="pwa_150.021"/> es ist viel verlangt, dass Jeder, auch der Hinzen und Kunzen nicht <lb n="pwa_150.022"/> kennt, nun doch die poetische Anschauung in sich reproducieren solle. <lb n="pwa_150.023"/> Deshalb hat sich Walther auch niemals auf so geringfügige Personen <lb n="pwa_150.024"/> und Ereignisse eingelassen: seine Gelegenheiten haben historische <lb n="pwa_150.025"/> Bedeutung, es sind Menschen und Thaten, von denen heute noch die <lb n="pwa_150.026"/> Geschichte meldet, so dass auch das Gelegenheitsgedicht nicht mit <lb n="pwa_150.027"/> ihnen gestorben ist. Das haben die schlesischen Gelegenheitsdichter <lb n="pwa_150.028"/> des siebzehnten Jahrhunderts nicht bedacht: jedes Ereigniss war ihnen <lb n="pwa_150.029"/> recht und des Besingens werth, bald weil es ihrer Eitelkeit schmeichelte, <lb n="pwa_150.030"/> überall auch ein Wort mit drein zu reden, bald und noch <lb n="pwa_150.031"/> häufiger aus noch erbärmlicheren Beweggründen, um der Belohnung <lb n="pwa_150.032"/> mit Gunst und Geld willen; in Verlegenheit, was sie sagen sollten, <lb n="pwa_150.033"/> geriethen sie nie: ward auch ihr Gemüth von dem vorliegenden Ereigniss <lb n="pwa_150.034"/> gar nicht berührt, so liessen sich immer noch je nach den Umständen <lb n="pwa_150.035"/> kühle, ernsthafte Betrachtungen in der sentenziösesten Lehrhaftigkeit <lb n="pwa_150.036"/> anstellen, oder es liessen sich auch Ungebührlichkeiten <lb n="pwa_150.037"/> vorbringen. Der Reproduction in einem weiteren Kreise von Lesern <lb n="pwa_150.038"/> wussten sie beinahe nie entgegen zu kommen, und es war das auch <lb n="pwa_150.039"/> in den allerwenigsten Fällen möglich; dennoch liessen sie Alles <lb n="pwa_150.040"/> drucken, und ihre Zeitgenossen lasen auch das Alles und bewunderten <lb n="pwa_150.041"/> es sogar.</p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [150/0168]
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Neben der geistlichen Gelegenheitspoesie, der epischen Lyrik der pwa_150.002
Kirche hat die neuere Zeit auch die weltliche Gelegenheitspoesie, die pwa_150.003
Gelegenheitspoesie κατ' ἐξοχὴν besonders cultiviert, und es sind namentlich pwa_150.004
die beiden s. g. schlesischen Dichterschulen des siebzehnten Jahrhunderts, pwa_150.005
welche auf diesem Felde, wenn auch nicht viel geerntet, pwa_150.006
doch wenigstens fleissig geackert haben; ja es giebt Dichter, von denen pwa_150.007
faustdicke Bände auf uns gekommen sind, die kaum etwas andres pwa_150.008
enthalten als Gelegenheitsgedichte, wie z. B. Christian Gryphius pwa_150.009
(LB. 2, 529). Man darf die Gelegenheitspoesie keinesweges im Allgemeinen pwa_150.010
verwerfen; denn es ist ein ganz lobenswerthes Streben, Jedwedes, pwa_150.011
das geschieht, poetisch verschönen zu wollen: es hat auch pwa_150.012
von jeher Gelegenheitspoesie gegeben, und die schönsten Dichtungen der pwa_150.013
provenzalischen, der französischen, der italiänischen und der deutschen pwa_150.014
Lyrik des Mittelalters sind oft im Grunde weiter nichts als Gelegenheitsgedichte. pwa_150.015
Aber man muss es auch zu machen verstehn, wie z. B. pwa_150.016
Walther von der Vogelweide, d. h. man muss einmal solche gelegenheitliche pwa_150.017
Motive ergreifen, denen sich eine poetische Seite abgewinnen pwa_150.018
lässt, und man muss dann auch diese poetische Seite herauszukehren pwa_150.019
wissen. Es ist aber schwer, dem eine poetische Seite abzugewinnen, pwa_150.020
wenn Hinz heirathet und Kunz taufen lässt oder begraben wird, und pwa_150.021
es ist viel verlangt, dass Jeder, auch der Hinzen und Kunzen nicht pwa_150.022
kennt, nun doch die poetische Anschauung in sich reproducieren solle. pwa_150.023
Deshalb hat sich Walther auch niemals auf so geringfügige Personen pwa_150.024
und Ereignisse eingelassen: seine Gelegenheiten haben historische pwa_150.025
Bedeutung, es sind Menschen und Thaten, von denen heute noch die pwa_150.026
Geschichte meldet, so dass auch das Gelegenheitsgedicht nicht mit pwa_150.027
ihnen gestorben ist. Das haben die schlesischen Gelegenheitsdichter pwa_150.028
des siebzehnten Jahrhunderts nicht bedacht: jedes Ereigniss war ihnen pwa_150.029
recht und des Besingens werth, bald weil es ihrer Eitelkeit schmeichelte, pwa_150.030
überall auch ein Wort mit drein zu reden, bald und noch pwa_150.031
häufiger aus noch erbärmlicheren Beweggründen, um der Belohnung pwa_150.032
mit Gunst und Geld willen; in Verlegenheit, was sie sagen sollten, pwa_150.033
geriethen sie nie: ward auch ihr Gemüth von dem vorliegenden Ereigniss pwa_150.034
gar nicht berührt, so liessen sich immer noch je nach den Umständen pwa_150.035
kühle, ernsthafte Betrachtungen in der sentenziösesten Lehrhaftigkeit pwa_150.036
anstellen, oder es liessen sich auch Ungebührlichkeiten pwa_150.037
vorbringen. Der Reproduction in einem weiteren Kreise von Lesern pwa_150.038
wussten sie beinahe nie entgegen zu kommen, und es war das auch pwa_150.039
in den allerwenigsten Fällen möglich; dennoch liessen sie Alles pwa_150.040
drucken, und ihre Zeitgenossen lasen auch das Alles und bewunderten pwa_150.041
es sogar.
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