Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_151.001 pwa_151.007 pwa_151.001 pwa_151.007 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <pb facs="#f0169" n="151"/> <p><lb n="pwa_151.001"/> In neueren Zeiten ist, man kann nicht sagen, die Gelegenheitsdichterei <lb n="pwa_151.002"/> überhaupt abgekommen: denn das wäre auch Unrecht: sondern <lb n="pwa_151.003"/> man lässt nur solche Gedichte, die das grosse Publicum nichts <lb n="pwa_151.004"/> angehn noch ihm verständlich sind, seltener für das Publicum drucken. <lb n="pwa_151.005"/> Dergleichen Gedichte verbleiben, wo sie hin gehören, im Hause und <lb n="pwa_151.006"/> im Kreise der Freunde.</p> <p><lb n="pwa_151.007"/> Von solcher niederen Gelegenheitspoesie wohl zu unterscheiden <lb n="pwa_151.008"/> ist die im höhern Stil, die schon im Alterthum bestand und immer <lb n="pwa_151.009"/> noch besteht, und deren Existenz man auch weder übersehen noch <lb n="pwa_151.010"/> wegwünschen darf, die sogenannte <hi rendition="#b">Ode</hi> im engern Sinne dieses Wortes. <lb n="pwa_151.011"/> Im eigentlichen und allgemeineren Sinne bezeichnet das Wort <lb n="pwa_151.012"/> <foreign xml:lang="grc">ᾠδὴ</foreign> etwa wie unser <hi rendition="#i">Lied</hi> jedes lyrische Gedicht, insofern es sangbar <lb n="pwa_151.013"/> ist. Die Ode, wie man jetzt das Wort versteht, und wie <lb n="pwa_151.014"/> dergleichen Gedichte auch bei den Alten, namentlich bei Horaz vorkommen, <lb n="pwa_151.015"/> und wie auch viele Psalmen so könnten genannt werden, <lb n="pwa_151.016"/> richtet sich gleich den Pindarischen Chorgesängen auf Ereignisse von <lb n="pwa_151.017"/> allgemeinem, nationalem, ja allgemein menschlichem Interesse; sie <lb n="pwa_151.018"/> knüpft auch die Entwickelung innerer Zustände an eine Persönlichkeit, <lb n="pwa_151.019"/> die Jeder ehrt, an Thaten und Ereignisse, von denen Jeder als ruhmreichen <lb n="pwa_151.020"/> weiss, und die lyrischen Gefühle, die sie ausspricht, sollen <lb n="pwa_151.021"/> meistens auch nicht die bloss subjectiven des Dichters, sollen nicht <lb n="pwa_151.022"/> bloss entsprungen sein aus seiner persönlichen Beziehung zu jenem <lb n="pwa_151.023"/> epischen Element, sondern sollen auch allgemein nationale, allgemein <lb n="pwa_151.024"/> menschliche Geltung besitzen und die Stimme Aller stellvertretend <lb n="pwa_151.025"/> ausdrücken. So weit reicht die Uebereinstimmung mit dem Pindarischen <lb n="pwa_151.026"/> Chorgesang: nun der Unterschied. Bei Pindar ist die Person <lb n="pwa_151.027"/> oder das Ereigniss nur Anlass und Anstoss für die Lyrik: es bildet <lb n="pwa_151.028"/> lediglich ein äusserliches Motiv, und sowie es das eine Mal eingewirkt <lb n="pwa_151.029"/> hat, ist auch seine Einwirkung so gut wie vorüber. Anders in der <lb n="pwa_151.030"/> Ode, wie sich ihr Character einmal festgestellt hat: hier ist mehr als <lb n="pwa_151.031"/> ein blosses Motiv, hier giebt das Epische mehr als den flüchtigen <lb n="pwa_151.032"/> Anlass und Anstoss: es ist vielmehr der beharrlich vorliegende Gegenstand <lb n="pwa_151.033"/> der Betrachtung, es wirkt von Anfang bis zu Ende fort und <lb n="pwa_151.034"/> trägt die inneren Zustände, die sich an ihm entwickeln. Aber das <lb n="pwa_151.035"/> geschieht auch in der Elegie, und somit würden wieder Ode und <lb n="pwa_151.036"/> Elegie zusammenfallen. Allein es giebt auch hier wichtige und wesentliche <lb n="pwa_151.037"/> Unterschiede. Einmal den Unterschied der äussern metrischen <lb n="pwa_151.038"/> Form: die Elegie wird in Distichen, die Ode in grösseren kunstreichen <lb n="pwa_151.039"/> Strophen, antiken oder nach moderner Weise gebauten, abgefasst. <lb n="pwa_151.040"/> Indess so folgenreich diess auch sein mag, so ist es doch nur ein <lb n="pwa_151.041"/> äusserer Unterschied. Noch wichtiger sind aber sodann die innern </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [151/0169]
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In neueren Zeiten ist, man kann nicht sagen, die Gelegenheitsdichterei pwa_151.002
überhaupt abgekommen: denn das wäre auch Unrecht: sondern pwa_151.003
man lässt nur solche Gedichte, die das grosse Publicum nichts pwa_151.004
angehn noch ihm verständlich sind, seltener für das Publicum drucken. pwa_151.005
Dergleichen Gedichte verbleiben, wo sie hin gehören, im Hause und pwa_151.006
im Kreise der Freunde.
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Von solcher niederen Gelegenheitspoesie wohl zu unterscheiden pwa_151.008
ist die im höhern Stil, die schon im Alterthum bestand und immer pwa_151.009
noch besteht, und deren Existenz man auch weder übersehen noch pwa_151.010
wegwünschen darf, die sogenannte Ode im engern Sinne dieses Wortes. pwa_151.011
Im eigentlichen und allgemeineren Sinne bezeichnet das Wort pwa_151.012
ᾠδὴ etwa wie unser Lied jedes lyrische Gedicht, insofern es sangbar pwa_151.013
ist. Die Ode, wie man jetzt das Wort versteht, und wie pwa_151.014
dergleichen Gedichte auch bei den Alten, namentlich bei Horaz vorkommen, pwa_151.015
und wie auch viele Psalmen so könnten genannt werden, pwa_151.016
richtet sich gleich den Pindarischen Chorgesängen auf Ereignisse von pwa_151.017
allgemeinem, nationalem, ja allgemein menschlichem Interesse; sie pwa_151.018
knüpft auch die Entwickelung innerer Zustände an eine Persönlichkeit, pwa_151.019
die Jeder ehrt, an Thaten und Ereignisse, von denen Jeder als ruhmreichen pwa_151.020
weiss, und die lyrischen Gefühle, die sie ausspricht, sollen pwa_151.021
meistens auch nicht die bloss subjectiven des Dichters, sollen nicht pwa_151.022
bloss entsprungen sein aus seiner persönlichen Beziehung zu jenem pwa_151.023
epischen Element, sondern sollen auch allgemein nationale, allgemein pwa_151.024
menschliche Geltung besitzen und die Stimme Aller stellvertretend pwa_151.025
ausdrücken. So weit reicht die Uebereinstimmung mit dem Pindarischen pwa_151.026
Chorgesang: nun der Unterschied. Bei Pindar ist die Person pwa_151.027
oder das Ereigniss nur Anlass und Anstoss für die Lyrik: es bildet pwa_151.028
lediglich ein äusserliches Motiv, und sowie es das eine Mal eingewirkt pwa_151.029
hat, ist auch seine Einwirkung so gut wie vorüber. Anders in der pwa_151.030
Ode, wie sich ihr Character einmal festgestellt hat: hier ist mehr als pwa_151.031
ein blosses Motiv, hier giebt das Epische mehr als den flüchtigen pwa_151.032
Anlass und Anstoss: es ist vielmehr der beharrlich vorliegende Gegenstand pwa_151.033
der Betrachtung, es wirkt von Anfang bis zu Ende fort und pwa_151.034
trägt die inneren Zustände, die sich an ihm entwickeln. Aber das pwa_151.035
geschieht auch in der Elegie, und somit würden wieder Ode und pwa_151.036
Elegie zusammenfallen. Allein es giebt auch hier wichtige und wesentliche pwa_151.037
Unterschiede. Einmal den Unterschied der äussern metrischen pwa_151.038
Form: die Elegie wird in Distichen, die Ode in grösseren kunstreichen pwa_151.039
Strophen, antiken oder nach moderner Weise gebauten, abgefasst. pwa_151.040
Indess so folgenreich diess auch sein mag, so ist es doch nur ein pwa_151.041
äusserer Unterschied. Noch wichtiger sind aber sodann die innern
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