Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_159.001 pwa_159.021 pwa_159.035 pwa_159.001 pwa_159.021 pwa_159.035 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0177" n="159"/><lb n="pwa_159.001"/> Epik. Was sie aber auf das Gebiet der didactischen Lyrik hinüberzieht <lb n="pwa_159.002"/> und sie von der Satire entfernt, ist, dass in ihr nicht sowohl <lb n="pwa_159.003"/> verständige Reflexionen zum Besten des sittlichen Gefühles angestellt <lb n="pwa_159.004"/> werden, als sich vielmehr das sittliche Gefühl selber ausspricht, wie <lb n="pwa_159.005"/> es durch den Verstand ist geleitet worden; und dass auch, wo die <lb n="pwa_159.006"/> Reflexion überwiegen sollte, sie immer eine durchaus individuelle ist, <lb n="pwa_159.007"/> dass sie keine so allgemeine, gleichsam dogmatische Gültigkeit anspricht, <lb n="pwa_159.008"/> wie die Reflexion der Satire: die Lehre steht hier überall in der subjectiven <lb n="pwa_159.009"/> Beziehung zu der Persönlichkeit des Dichters. Und das <lb n="pwa_159.010"/> gehört sich auch für die Epistel, für den Brief. Die Briefform wäre <lb n="pwa_159.011"/> nicht nur bedeutungslos, sondern sogar störend und unpasslich, wenn <lb n="pwa_159.012"/> der Verfasser etwas andres thun wollte, als seine Reflexion und seine <lb n="pwa_159.013"/> Empfindungen darlegen, wie sie in seinen Umständen und seinen <lb n="pwa_159.014"/> Erlebnissen begründet sind, und wenn er sie nicht mit der ganzen <lb n="pwa_159.015"/> Unverholenheit seiner Individualität entwickeln wollte, wie sie in einen <lb n="pwa_159.016"/> Brief gehört, den man an einen Freund richtet oder an sonst Jemanden, <lb n="pwa_159.017"/> gegen den man sich frei und offen äussern kann, wie z. B. einer von <lb n="pwa_159.018"/> Horazens Briefen (1, 14) an den Verwalter seines Landgutes gerichtet <lb n="pwa_159.019"/> ist, ad villicum suum; einer von Göckingks Briefen an seinen Bedienten: <lb n="pwa_159.020"/> LB. 2<hi rendition="#sup">1</hi>, 753.</p> <p><lb n="pwa_159.021"/> Diesen individuellen Character hat von allen Horazischen Briefen <lb n="pwa_159.022"/> vielleicht nur ein einziger in geringem Masse und beinahe gar nicht, <lb n="pwa_159.023"/> der letzte des zweiten Buches, ad Pisones, den man deswegen auch <lb n="pwa_159.024"/> gewöhnlich ganz aus dem Verbande der Briefsammlung herauslöst, als <lb n="pwa_159.025"/> ein besonderes didactisches Gedicht über die Dichtkunst, de arte poetica. <lb n="pwa_159.026"/> Allerdings erscheint hier auch die Briefform als ein blosser Vorwand: es <lb n="pwa_159.027"/> ist das lehrhafteste Lehrgedicht, von Anfang bis zu Ende spricht der Verstand <lb n="pwa_159.028"/> zum Verstande; die Individualität und das Gefühl des Dichters <lb n="pwa_159.029"/> kommt nur selten irgendwo zur Aeusserung, und die Briefform ist nur in <lb n="pwa_159.030"/> so weit benützt, als sie dem Dichter hat erlauben müssen, die sonst <lb n="pwa_159.031"/> geforderte systematische Entwickelung seiner Lehren gegen eine freiere, <lb n="pwa_159.032"/> mehr hin und her schweifende zu vertauschen: dadurch bekommt freilich <lb n="pwa_159.033"/> das Ganze einen minder prosaischen Anschein, aber es ist doch <lb n="pwa_159.034"/> nur der Anschein, der durch dieses Mittel verringert wird.</p> <p><lb n="pwa_159.035"/> Nach all diesem kann man die Epistel eine auf das Gebiet der <lb n="pwa_159.036"/> Lyrik übertragene didactische Epik nennen: eine andre Dichtart lässt <lb n="pwa_159.037"/> sich als eine in die Didaxis übertragene epische Lyrik auffassen, nämlich <lb n="pwa_159.038"/> das <hi rendition="#b">Epigramm der Lehre und des Spottes.</hi> Wir haben früher <lb n="pwa_159.039"/> (S. 138) unter der epischen Lyrik das Epigramm der Empfindung abgehandelt <lb n="pwa_159.040"/> und haben da gesehen, wie diese Epigramme ein zwiefaches <lb n="pwa_159.041"/> Element enthalten, ein episches und ein lyrisches, ein aus der gegebenen </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [159/0177]
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Epik. Was sie aber auf das Gebiet der didactischen Lyrik hinüberzieht pwa_159.002
und sie von der Satire entfernt, ist, dass in ihr nicht sowohl pwa_159.003
verständige Reflexionen zum Besten des sittlichen Gefühles angestellt pwa_159.004
werden, als sich vielmehr das sittliche Gefühl selber ausspricht, wie pwa_159.005
es durch den Verstand ist geleitet worden; und dass auch, wo die pwa_159.006
Reflexion überwiegen sollte, sie immer eine durchaus individuelle ist, pwa_159.007
dass sie keine so allgemeine, gleichsam dogmatische Gültigkeit anspricht, pwa_159.008
wie die Reflexion der Satire: die Lehre steht hier überall in der subjectiven pwa_159.009
Beziehung zu der Persönlichkeit des Dichters. Und das pwa_159.010
gehört sich auch für die Epistel, für den Brief. Die Briefform wäre pwa_159.011
nicht nur bedeutungslos, sondern sogar störend und unpasslich, wenn pwa_159.012
der Verfasser etwas andres thun wollte, als seine Reflexion und seine pwa_159.013
Empfindungen darlegen, wie sie in seinen Umständen und seinen pwa_159.014
Erlebnissen begründet sind, und wenn er sie nicht mit der ganzen pwa_159.015
Unverholenheit seiner Individualität entwickeln wollte, wie sie in einen pwa_159.016
Brief gehört, den man an einen Freund richtet oder an sonst Jemanden, pwa_159.017
gegen den man sich frei und offen äussern kann, wie z. B. einer von pwa_159.018
Horazens Briefen (1, 14) an den Verwalter seines Landgutes gerichtet pwa_159.019
ist, ad villicum suum; einer von Göckingks Briefen an seinen Bedienten: pwa_159.020
LB. 21, 753.
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Diesen individuellen Character hat von allen Horazischen Briefen pwa_159.022
vielleicht nur ein einziger in geringem Masse und beinahe gar nicht, pwa_159.023
der letzte des zweiten Buches, ad Pisones, den man deswegen auch pwa_159.024
gewöhnlich ganz aus dem Verbande der Briefsammlung herauslöst, als pwa_159.025
ein besonderes didactisches Gedicht über die Dichtkunst, de arte poetica. pwa_159.026
Allerdings erscheint hier auch die Briefform als ein blosser Vorwand: es pwa_159.027
ist das lehrhafteste Lehrgedicht, von Anfang bis zu Ende spricht der Verstand pwa_159.028
zum Verstande; die Individualität und das Gefühl des Dichters pwa_159.029
kommt nur selten irgendwo zur Aeusserung, und die Briefform ist nur in pwa_159.030
so weit benützt, als sie dem Dichter hat erlauben müssen, die sonst pwa_159.031
geforderte systematische Entwickelung seiner Lehren gegen eine freiere, pwa_159.032
mehr hin und her schweifende zu vertauschen: dadurch bekommt freilich pwa_159.033
das Ganze einen minder prosaischen Anschein, aber es ist doch pwa_159.034
nur der Anschein, der durch dieses Mittel verringert wird.
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Nach all diesem kann man die Epistel eine auf das Gebiet der pwa_159.036
Lyrik übertragene didactische Epik nennen: eine andre Dichtart lässt pwa_159.037
sich als eine in die Didaxis übertragene epische Lyrik auffassen, nämlich pwa_159.038
das Epigramm der Lehre und des Spottes. Wir haben früher pwa_159.039
(S. 138) unter der epischen Lyrik das Epigramm der Empfindung abgehandelt pwa_159.040
und haben da gesehen, wie diese Epigramme ein zwiefaches pwa_159.041
Element enthalten, ein episches und ein lyrisches, ein aus der gegebenen
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