Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_160.001 pwa_160.038 pwa_160.001 pwa_160.038 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0178" n="160"/><lb n="pwa_160.001"/> Wirklichkeit entnommenes Motiv und eine unmittelbar dadurch angeregte <lb n="pwa_160.002"/> Empfindung, eine Exposition und eine Clausel. Wenn sich nun in <lb n="pwa_160.003"/> die epigrammatische Anschauung der Verstand in der Weise einmischt, <lb n="pwa_160.004"/> dass er sich zuerst des epischen Motivs bemeistert und es dann erst <lb n="pwa_160.005"/> an das Gefühl gelangen lässt, dass er entweder jenem Motiv eine <lb n="pwa_160.006"/> directe, positive Lehre, eine Vorschrift, einen Erfahrungssatz abgewinnt, <lb n="pwa_160.007"/> oder damit in Widerspruch tritt, darüber lacht und spottet <lb n="pwa_160.008"/> und so indirect und negativ lehrt: wenn auf diese Weise die Einwirkung <lb n="pwa_160.009"/> des epischen Motivs auf das sittliche Gefühl erst durch den <lb n="pwa_160.010"/> Verstand vermittelt wird, so ergiebt sich daraus das didactische Epigramm, <lb n="pwa_160.011"/> das Epigramm der Lehre und des Spottes. Diese Wendung <lb n="pwa_160.012"/> der s. g. Clausel aus der Lyrik in das Didactische ist dann aber auch <lb n="pwa_160.013"/> der einzige Unterschied, der zwischen solchen didactischen Epigrammen <lb n="pwa_160.014"/> und denen der Empfindung besteht: sonst gelten hier die gleichen <lb n="pwa_160.015"/> Gesetze wie dort: die Exposition verlangt Einfachheit und Kürze, <lb n="pwa_160.016"/> die Clausel ausserdem noch eine piquante Einseitigkeit; dass Witz <lb n="pwa_160.017"/> und Scharfsinn hier besonders am Orte sind, wo es meist darauf <lb n="pwa_160.018"/> ankommt, einen spöttischen Widerspruch des Verstandes auszudrücken, <lb n="pwa_160.019"/> versteht sich von selbst. Bei den Griechen kommt dergleichen, wie <lb n="pwa_160.020"/> bereits früherhin ist erwähnt worden, nicht viel vor: die Römer <lb n="pwa_160.021"/> dagegen kehrten, als sie auch das griechische Epigramm auf ihren <lb n="pwa_160.022"/> Boden verpflanzten, diese didactische, namentlich aber die satirische <lb n="pwa_160.023"/> Richtung vorzüglich heraus. Reinere lyrische Empfindung ist überhaupt <lb n="pwa_160.024"/> nie recht die Sache der Römer gewesen, die ausgeführtere Satire war <lb n="pwa_160.025"/> von jeher bei ihnen zu Hause; und als sie das Epigramm kennen <lb n="pwa_160.026"/> lernten, da sah der Dichter um sich her wahrlich mehr Thorheit und <lb n="pwa_160.027"/> Verworfenheit als Anregungen der unmittelbaren lyrischen Empfindung. <lb n="pwa_160.028"/> So ist es ganz erklärlich, dass man bei dem vorzüglichsten Epigrammendichter <lb n="pwa_160.029"/> der Lateiner, bei Martialis, ganze Bücher durchlesen kann, <lb n="pwa_160.030"/> ehe man einem einzigen Epigramm der Empfindung begegnet. Wir <lb n="pwa_160.031"/> Deutsche sind mit dem Epigramm unter ähnlichen Umständen und <lb n="pwa_160.032"/> nach ähnlichen Präcedentien, im siebzehnten Jahrhundert, vertrauter <lb n="pwa_160.033"/> geworden: darum ist es auch bei uns beinahe zwei Jahrhunderte lang <lb n="pwa_160.034"/> auch nur ein Epigramm der Lehre, namentlich aber des Spottes gewesen. <lb n="pwa_160.035"/> Wir müssen hier für einige Augenblicke zu einem Puncte zurückkehren, <lb n="pwa_160.036"/> der schon früher ist berührt, und an dem schon damals auf <lb n="pwa_160.037"/> die jetzt vorliegende Erörterung ist verwiesen worden.</p> <p><lb n="pwa_160.038"/> Wir haben, als wir von der didactischen Epik sprachen (S. 116), <lb n="pwa_160.039"/> den Unterschied zwischen Spruch und Sprichwort, zwischen <foreign xml:lang="grc">γνώμη</foreign> und <lb n="pwa_160.040"/> <foreign xml:lang="grc">παροιμία</foreign>, zwischen sententia und proverbium darin gefunden, dass <lb n="pwa_160.041"/> der Spruch seine Vorschrift oder seinen Erfahrungssatz ganz unumwunden </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [160/0178]
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Wirklichkeit entnommenes Motiv und eine unmittelbar dadurch angeregte pwa_160.002
Empfindung, eine Exposition und eine Clausel. Wenn sich nun in pwa_160.003
die epigrammatische Anschauung der Verstand in der Weise einmischt, pwa_160.004
dass er sich zuerst des epischen Motivs bemeistert und es dann erst pwa_160.005
an das Gefühl gelangen lässt, dass er entweder jenem Motiv eine pwa_160.006
directe, positive Lehre, eine Vorschrift, einen Erfahrungssatz abgewinnt, pwa_160.007
oder damit in Widerspruch tritt, darüber lacht und spottet pwa_160.008
und so indirect und negativ lehrt: wenn auf diese Weise die Einwirkung pwa_160.009
des epischen Motivs auf das sittliche Gefühl erst durch den pwa_160.010
Verstand vermittelt wird, so ergiebt sich daraus das didactische Epigramm, pwa_160.011
das Epigramm der Lehre und des Spottes. Diese Wendung pwa_160.012
der s. g. Clausel aus der Lyrik in das Didactische ist dann aber auch pwa_160.013
der einzige Unterschied, der zwischen solchen didactischen Epigrammen pwa_160.014
und denen der Empfindung besteht: sonst gelten hier die gleichen pwa_160.015
Gesetze wie dort: die Exposition verlangt Einfachheit und Kürze, pwa_160.016
die Clausel ausserdem noch eine piquante Einseitigkeit; dass Witz pwa_160.017
und Scharfsinn hier besonders am Orte sind, wo es meist darauf pwa_160.018
ankommt, einen spöttischen Widerspruch des Verstandes auszudrücken, pwa_160.019
versteht sich von selbst. Bei den Griechen kommt dergleichen, wie pwa_160.020
bereits früherhin ist erwähnt worden, nicht viel vor: die Römer pwa_160.021
dagegen kehrten, als sie auch das griechische Epigramm auf ihren pwa_160.022
Boden verpflanzten, diese didactische, namentlich aber die satirische pwa_160.023
Richtung vorzüglich heraus. Reinere lyrische Empfindung ist überhaupt pwa_160.024
nie recht die Sache der Römer gewesen, die ausgeführtere Satire war pwa_160.025
von jeher bei ihnen zu Hause; und als sie das Epigramm kennen pwa_160.026
lernten, da sah der Dichter um sich her wahrlich mehr Thorheit und pwa_160.027
Verworfenheit als Anregungen der unmittelbaren lyrischen Empfindung. pwa_160.028
So ist es ganz erklärlich, dass man bei dem vorzüglichsten Epigrammendichter pwa_160.029
der Lateiner, bei Martialis, ganze Bücher durchlesen kann, pwa_160.030
ehe man einem einzigen Epigramm der Empfindung begegnet. Wir pwa_160.031
Deutsche sind mit dem Epigramm unter ähnlichen Umständen und pwa_160.032
nach ähnlichen Präcedentien, im siebzehnten Jahrhundert, vertrauter pwa_160.033
geworden: darum ist es auch bei uns beinahe zwei Jahrhunderte lang pwa_160.034
auch nur ein Epigramm der Lehre, namentlich aber des Spottes gewesen. pwa_160.035
Wir müssen hier für einige Augenblicke zu einem Puncte zurückkehren, pwa_160.036
der schon früher ist berührt, und an dem schon damals auf pwa_160.037
die jetzt vorliegende Erörterung ist verwiesen worden.
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Wir haben, als wir von der didactischen Epik sprachen (S. 116), pwa_160.039
den Unterschied zwischen Spruch und Sprichwort, zwischen γνώμη und pwa_160.040
παροιμία, zwischen sententia und proverbium darin gefunden, dass pwa_160.041
der Spruch seine Vorschrift oder seinen Erfahrungssatz ganz unumwunden
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