Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_161.001 pwa_161.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0179" n="161"/><lb n="pwa_161.001"/> in nackter Abstractheit hinstellt, das Sprichwort aber nach Art der <lb n="pwa_161.002"/> Fabel, nur kürzer als diese, die Lehre umkleidet mit der concreten <lb n="pwa_161.003"/> Form einer gesetzten, angenommenen Wirklichkeit. Grade wie nun <lb n="pwa_161.004"/> die äsopische Fabel der epischen Einkleidung gern noch die lehrhafte <lb n="pwa_161.005"/> Ausdeutung hinzufügt, grade so zeigt sich bei den Völkern, wo besonders <lb n="pwa_161.006"/> viel Sprüche und Sprichwörter im Schwange sind, ein Wohlgefallen <lb n="pwa_161.007"/> an der Verbindung von gleichbedeutenden Sprüchen und <lb n="pwa_161.008"/> Sprichwörtern. So schon in den Sprichwörtern Salomonis; so auch <lb n="pwa_161.009"/> bei uns zu Anfang des dreizehnten Jahrhunderts in Freidanks Bescheidenheit <lb n="pwa_161.010"/> (d. h. so viel als Verständigkeit). Hier kommen erstens reine <lb n="pwa_161.011"/> Sprüche, zweitens reine Sprichwörter und endlich drittens solche Verbindungen <lb n="pwa_161.012"/> beider, <hi rendition="#b">sprichwörtliche Sprüche</hi> vor, die zuerst ein concretes <lb n="pwa_161.013"/> Symbol des Lehrsatzes, dann die abstracte Ausdeutung dieses Symbols <lb n="pwa_161.014"/> gewähren, z. B.: „Waʒ mac der haven gesprechen, wil in sîn meister <lb n="pwa_161.015"/> brechen? niht mêr muge wir wider got gesprechen, kumt uns sîn <lb n="pwa_161.016"/> gebot“ (Ausgabe W. Grimms 6, 26). In dieser Verbindung von <lb n="pwa_161.017"/> Sprichwort und Spruch sehen wir bereits eine Art von didactischem <lb n="pwa_161.018"/> Epigramm: auch hier eine epische Exposition und eine didactische <lb n="pwa_161.019"/> Clausel, nur noch mit dem Unterschiede, dass die Wirklichkeit der <lb n="pwa_161.020"/> Exposition keine gegebene ist, sondern eine angenommene, eine gesetzte, <lb n="pwa_161.021"/> und dass deshalb die Lehre der Clausel noch in ganz abstracter Allgemeinheit <lb n="pwa_161.022"/> erscheint. Man dichtete aber nach Freidanks Beispiel und <lb n="pwa_161.023"/> auf dem Grunde seines Werkes weiter: da kam man denn im vierzehnten <lb n="pwa_161.024"/> Jahrhundert (einzelne Vorklänge finden sich schon bei Freidank <lb n="pwa_161.025"/> selbst, ja sogar im zwölften Jahrhundert bei Spervogel) zu einer <lb n="pwa_161.026"/> eigenthümlichen Art von didactischem Epigramm, welche die Deutschen <lb n="pwa_161.027"/> eigentlich nur noch mit der Sanskritpoesie theilen, zu der <hi rendition="#b">Priamel.</hi> <lb n="pwa_161.028"/> Es wird da eine ganze Reihe von sinnlichen Einzelheiten aufgezählt, <lb n="pwa_161.029"/> von blossen Einzelheiten, nicht von epischen Situationen; diese Einzelheiten <lb n="pwa_161.030"/> erscheinen gar nicht zusammengehörig, und während in ihrer <lb n="pwa_161.031"/> Aufzählung praeambuliert wird (daher der Name), begreift man gar <lb n="pwa_161.032"/> nicht, wo es damit hinaus soll, bis zuletzt eine unsinnliche Allgemeinheit <lb n="pwa_161.033"/> sie alle vereinigt und zusammenfasst. Z. B. Ain junge maid on <lb n="pwa_161.034"/> lieb, und ain grosser jarmarkt on dieb, und ein alter jud on gut, und <lb n="pwa_161.035"/> ain junger man on mut, und ain alte scheur on meuss, und ain alter <lb n="pwa_161.036"/> belz on leuss, und ain alter bock on bart: das ist alles wider naturlich <lb n="pwa_161.037"/> art (LB. 1<hi rendition="#sup">4</hi>, 1205. 1<hi rendition="#sup">5</hi>, 1385). Was zu dieser eigenthümlichen Wendung <lb n="pwa_161.038"/> des didactischen Epigramms zunächst und zumeist den Anstoss geben <lb n="pwa_161.039"/> mochte, war wohl die den Deutschen gleichfalls von jeher beliebte <lb n="pwa_161.040"/> Räthselpoesie. Denn auch das <hi rendition="#b">Räthsel</hi> giebt gewöhnlich wie die Priamel <lb n="pwa_161.041"/> eine grössere oder kleinere Reihe von sinnlichen Einzelheiten, die auch </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [161/0179]
pwa_161.001
in nackter Abstractheit hinstellt, das Sprichwort aber nach Art der pwa_161.002
Fabel, nur kürzer als diese, die Lehre umkleidet mit der concreten pwa_161.003
Form einer gesetzten, angenommenen Wirklichkeit. Grade wie nun pwa_161.004
die äsopische Fabel der epischen Einkleidung gern noch die lehrhafte pwa_161.005
Ausdeutung hinzufügt, grade so zeigt sich bei den Völkern, wo besonders pwa_161.006
viel Sprüche und Sprichwörter im Schwange sind, ein Wohlgefallen pwa_161.007
an der Verbindung von gleichbedeutenden Sprüchen und pwa_161.008
Sprichwörtern. So schon in den Sprichwörtern Salomonis; so auch pwa_161.009
bei uns zu Anfang des dreizehnten Jahrhunderts in Freidanks Bescheidenheit pwa_161.010
(d. h. so viel als Verständigkeit). Hier kommen erstens reine pwa_161.011
Sprüche, zweitens reine Sprichwörter und endlich drittens solche Verbindungen pwa_161.012
beider, sprichwörtliche Sprüche vor, die zuerst ein concretes pwa_161.013
Symbol des Lehrsatzes, dann die abstracte Ausdeutung dieses Symbols pwa_161.014
gewähren, z. B.: „Waʒ mac der haven gesprechen, wil in sîn meister pwa_161.015
brechen? niht mêr muge wir wider got gesprechen, kumt uns sîn pwa_161.016
gebot“ (Ausgabe W. Grimms 6, 26). In dieser Verbindung von pwa_161.017
Sprichwort und Spruch sehen wir bereits eine Art von didactischem pwa_161.018
Epigramm: auch hier eine epische Exposition und eine didactische pwa_161.019
Clausel, nur noch mit dem Unterschiede, dass die Wirklichkeit der pwa_161.020
Exposition keine gegebene ist, sondern eine angenommene, eine gesetzte, pwa_161.021
und dass deshalb die Lehre der Clausel noch in ganz abstracter Allgemeinheit pwa_161.022
erscheint. Man dichtete aber nach Freidanks Beispiel und pwa_161.023
auf dem Grunde seines Werkes weiter: da kam man denn im vierzehnten pwa_161.024
Jahrhundert (einzelne Vorklänge finden sich schon bei Freidank pwa_161.025
selbst, ja sogar im zwölften Jahrhundert bei Spervogel) zu einer pwa_161.026
eigenthümlichen Art von didactischem Epigramm, welche die Deutschen pwa_161.027
eigentlich nur noch mit der Sanskritpoesie theilen, zu der Priamel. pwa_161.028
Es wird da eine ganze Reihe von sinnlichen Einzelheiten aufgezählt, pwa_161.029
von blossen Einzelheiten, nicht von epischen Situationen; diese Einzelheiten pwa_161.030
erscheinen gar nicht zusammengehörig, und während in ihrer pwa_161.031
Aufzählung praeambuliert wird (daher der Name), begreift man gar pwa_161.032
nicht, wo es damit hinaus soll, bis zuletzt eine unsinnliche Allgemeinheit pwa_161.033
sie alle vereinigt und zusammenfasst. Z. B. Ain junge maid on pwa_161.034
lieb, und ain grosser jarmarkt on dieb, und ein alter jud on gut, und pwa_161.035
ain junger man on mut, und ain alte scheur on meuss, und ain alter pwa_161.036
belz on leuss, und ain alter bock on bart: das ist alles wider naturlich pwa_161.037
art (LB. 14, 1205. 15, 1385). Was zu dieser eigenthümlichen Wendung pwa_161.038
des didactischen Epigramms zunächst und zumeist den Anstoss geben pwa_161.039
mochte, war wohl die den Deutschen gleichfalls von jeher beliebte pwa_161.040
Räthselpoesie. Denn auch das Räthsel giebt gewöhnlich wie die Priamel pwa_161.041
eine grössere oder kleinere Reihe von sinnlichen Einzelheiten, die auch
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |