Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_162.001 pwa_162.009 pwa_162.033 pwa_162.001 pwa_162.009 pwa_162.033 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0180" n="162"/><lb n="pwa_162.001"/> wie in der Priamel gar nicht zu einander zu passen scheinen: nur <lb n="pwa_162.002"/> wird die Clausel hier nicht vom Dichter hinzugefügt, sondern der <lb n="pwa_162.003"/> Hörer oder Leser soll sie selber finden, und sie ist in der Regel kein <lb n="pwa_162.004"/> Gedanke, sondern selbst wieder ein einzelner Begriff, in welchem <lb n="pwa_162.005"/> wie bei der Priamel all die gegebenen Merkmale zusammentreffen, <lb n="pwa_162.006"/> das Subject all der Prädicate. Und so gehört das Räthsel <lb n="pwa_162.007"/> neben die Priamel und mit ihr in das allgemeine Gebiet des <lb n="pwa_162.008"/> Epigramms.</p> <p><lb n="pwa_162.009"/> Mit den sprichwörtlichen Sprüchen Freidanks und mit den Priameln <lb n="pwa_162.010"/> war der deutsche Boden zur Genüge vorbereitet worden, dass auf <lb n="pwa_162.011"/> ihn, als das Mittelalter gänzlich vorüber war, und die letzte grosse <lb n="pwa_162.012"/> Periode unserer Litteratur mit all ihren Entlehnungen aus der Vorzeit <lb n="pwa_162.013"/> und der Fremde begann, dass da auf ihn das römische Epigramm <lb n="pwa_162.014"/> des Spottes schnell und mit Leichtigkeit konnte übergepflanzt werden. <lb n="pwa_162.015"/> Man griff aber nach diesem mit um so grösserer Begierde, als damals, <lb n="pwa_162.016"/> in all dem sittlichen und politischen Elend des siebzehnten Jahrhunderts, <lb n="pwa_162.017"/> der satirische Epigrammendichter nur zu reichlichen Stoff vorfand. <lb n="pwa_162.018"/> Wie nah aber die alte deutsche Weise der neu erlernten römischen <lb n="pwa_162.019"/> lag, sieht man besonders deutlich an dem grössten Epigrammatiker <lb n="pwa_162.020"/> Friedrich von Logau. Er freut sich noch des alten deutschen Erbes, <lb n="pwa_162.021"/> der direct lehrenden und der sprichwörtlichen Sprüche und der Priameln, <lb n="pwa_162.022"/> daneben dann aber auch eines Schatzes von indirect lehrenden, von <lb n="pwa_162.023"/> spottenden und strafenden Epigrammen (LB. 2, 377). Nach ihm hat <lb n="pwa_162.024"/> die letztere Art immer das Uebergewicht behauptet; Epigramme der <lb n="pwa_162.025"/> directen Lehre kommen selten, die der Empfindung gar nicht vor, <lb n="pwa_162.026"/> bis endlich Herder und Göthe und Schiller das Epigramm über alle <lb n="pwa_162.027"/> drei Gattungen ausdehnten und zu dem deutschen der Lehre, dem <lb n="pwa_162.028"/> lateinischen des Spottes nun auch das griechische der Empfindung <lb n="pwa_162.029"/> gesellten. Aber mit Göthe und Schiller erlebte auch das didactische <lb n="pwa_162.030"/> Epigramm eine neue Epoche: durch sie ist auch für dieses die antike <lb n="pwa_162.031"/> Form des Distichons beinahe allgemein geltend geworden, während <lb n="pwa_162.032"/> vor ihnen alle Epigramme in Reimen abgefasst wurden.</p> <p><lb n="pwa_162.033"/> Das lehrende und das satirische Epigramm sind nur die didactische <lb n="pwa_162.034"/> Umgestaltung des Epigramms der Empfindung, also einer Art <lb n="pwa_162.035"/> von epischer Lyrik: ebenso lehnt sich auch anderweitig die didactische <lb n="pwa_162.036"/> Lyrik eng an die epische Lyrik an. Diess ist der Fall in der <hi rendition="#b">didactischen <lb n="pwa_162.037"/> Gelegenheitspoesie.</hi> Wir haben zuerst auf dem Gebiete der <lb n="pwa_162.038"/> lyrischen Epik eine Gelegenheitspoesie kennen lernen, wir sind ihr <lb n="pwa_162.039"/> sodann schon einmal wieder auf dem der Lyrik begegnet, als wir <lb n="pwa_162.040"/> von der epischen Lyrik sprachen: wir treffen nun auch eine didactische <lb n="pwa_162.041"/> Gelegenheitsdichtung, die ebenso aus der lyrischen hervorgegangen </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [162/0180]
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wie in der Priamel gar nicht zu einander zu passen scheinen: nur pwa_162.002
wird die Clausel hier nicht vom Dichter hinzugefügt, sondern der pwa_162.003
Hörer oder Leser soll sie selber finden, und sie ist in der Regel kein pwa_162.004
Gedanke, sondern selbst wieder ein einzelner Begriff, in welchem pwa_162.005
wie bei der Priamel all die gegebenen Merkmale zusammentreffen, pwa_162.006
das Subject all der Prädicate. Und so gehört das Räthsel pwa_162.007
neben die Priamel und mit ihr in das allgemeine Gebiet des pwa_162.008
Epigramms.
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Mit den sprichwörtlichen Sprüchen Freidanks und mit den Priameln pwa_162.010
war der deutsche Boden zur Genüge vorbereitet worden, dass auf pwa_162.011
ihn, als das Mittelalter gänzlich vorüber war, und die letzte grosse pwa_162.012
Periode unserer Litteratur mit all ihren Entlehnungen aus der Vorzeit pwa_162.013
und der Fremde begann, dass da auf ihn das römische Epigramm pwa_162.014
des Spottes schnell und mit Leichtigkeit konnte übergepflanzt werden. pwa_162.015
Man griff aber nach diesem mit um so grösserer Begierde, als damals, pwa_162.016
in all dem sittlichen und politischen Elend des siebzehnten Jahrhunderts, pwa_162.017
der satirische Epigrammendichter nur zu reichlichen Stoff vorfand. pwa_162.018
Wie nah aber die alte deutsche Weise der neu erlernten römischen pwa_162.019
lag, sieht man besonders deutlich an dem grössten Epigrammatiker pwa_162.020
Friedrich von Logau. Er freut sich noch des alten deutschen Erbes, pwa_162.021
der direct lehrenden und der sprichwörtlichen Sprüche und der Priameln, pwa_162.022
daneben dann aber auch eines Schatzes von indirect lehrenden, von pwa_162.023
spottenden und strafenden Epigrammen (LB. 2, 377). Nach ihm hat pwa_162.024
die letztere Art immer das Uebergewicht behauptet; Epigramme der pwa_162.025
directen Lehre kommen selten, die der Empfindung gar nicht vor, pwa_162.026
bis endlich Herder und Göthe und Schiller das Epigramm über alle pwa_162.027
drei Gattungen ausdehnten und zu dem deutschen der Lehre, dem pwa_162.028
lateinischen des Spottes nun auch das griechische der Empfindung pwa_162.029
gesellten. Aber mit Göthe und Schiller erlebte auch das didactische pwa_162.030
Epigramm eine neue Epoche: durch sie ist auch für dieses die antike pwa_162.031
Form des Distichons beinahe allgemein geltend geworden, während pwa_162.032
vor ihnen alle Epigramme in Reimen abgefasst wurden.
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Das lehrende und das satirische Epigramm sind nur die didactische pwa_162.034
Umgestaltung des Epigramms der Empfindung, also einer Art pwa_162.035
von epischer Lyrik: ebenso lehnt sich auch anderweitig die didactische pwa_162.036
Lyrik eng an die epische Lyrik an. Diess ist der Fall in der didactischen pwa_162.037
Gelegenheitspoesie. Wir haben zuerst auf dem Gebiete der pwa_162.038
lyrischen Epik eine Gelegenheitspoesie kennen lernen, wir sind ihr pwa_162.039
sodann schon einmal wieder auf dem der Lyrik begegnet, als wir pwa_162.040
von der epischen Lyrik sprachen: wir treffen nun auch eine didactische pwa_162.041
Gelegenheitsdichtung, die ebenso aus der lyrischen hervorgegangen
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