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Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873

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ist, wie diese aus der epischen. Es ist bereits (S. 145) erwähnt worden, pwa_163.002
wie die lyrische Gelegenheitspoesie Pindars an nicht seltenen Stellen in pwa_163.003
das Lehrhafte hinübergreife, was die hohe religiös-sittliche Richtung pwa_163.004
seines Geistes von selbst mit sich bringt; auch haben wir erwähnt pwa_163.005
(S. 146), wie das gleiche Hinübergreifen bei den Dichtern des Mittelalters, pwa_163.006
in den Sirventesen der Provenzalen und den ihnen entsprechenden Dichtungen pwa_163.007
der Deutschen wiederkehre. Hier jedoch ist der Grund und pwa_163.008
Anlass dazu meist ein andrer als dort bei Pindar. Die mittelalterlichen pwa_163.009
Dichter waren meist zu bereitwillig, zu freigebig mit solchen pwa_163.010
Dienstgedichten, sie wollten jedwede Gelegenheit poetisch fixieren. pwa_163.011
Aber häufig war da kein einziger Punct vorhanden, an welchem sich pwa_163.012
reine und unmittelbare Lyrik hätte entwickeln können, und es bedurfte, pwa_163.013
eh das Gefühl konnte zu Worte kommen, erst der ausdeutenden Vermittelung pwa_163.014
des Verstandes und seiner lehrhaften Weisungen. Und so pwa_163.015
ist es denn gekommen, dass die Gelegenheitspoesie des Mittelalters pwa_163.016
nicht bloss stellenweise ganz aus dem Episch-lyrischen hinüberstreift pwa_163.017
in das Didactische, sondern dass sie noch öfter ganz und gar nur pwa_163.018
für didactische Lyrik gelten kann. Sowie es aber einmal eine didactischlyrische pwa_163.019
Gelegenheitspoesie gab, konnte es nicht ausbleiben, man musste pwa_163.020
unvermerkt und ohne bewusstes Zuthun auch da, wo es keine eigentliche pwa_163.021
Gelegenheit galt, man musste mit der Lyrik überhaupt in die pwa_163.022
Didaxis hineingerathen.

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Bei Walther von der Vogelweide, wie er denn überhaupt der pwa_163.024
bedeutendste Lyriker unseres Mittelalters ist, zeigt sich das alles noch pwa_163.025
in einem rechten und gesunden Verhältniss. Er giebt dem Verstande pwa_163.026
immer nur dann Raum, wenn ohne sein Zuthun die Production wirklich pwa_163.027
unmöglich wäre; zuletzt aber finden dessen Urtheile ihre Erfüllung pwa_163.028
doch nur in dem Gemüthe des Dichters, und seine Lehren beleben pwa_163.029
sich in dem Licht und der Wärme des Gefühles. So ist es in den pwa_163.030
politischen Gedichten, z. B. in denen auf Pabst Innocenz III. (LB. 14, pwa_163.031
404. 15, 583), die in Ermangelung zahlreicherer und grösserer Ueberreste pwa_163.032
von Archilochus selbst uns über das Wesen der Archilochischen, pwa_163.033
d. h. der lyrischen Satire belehren können; so in den an keine bestimmte pwa_163.034
Gelegenheit geknüpften ethischen Gedichten, die vor dem grösseren pwa_163.035
Theile der gnomischen Poesie der Griechen so viel voraus haben, als pwa_163.036
überhaupt in Sachen der Dichtkunst das Gefühl voraus hat vor dem pwa_163.037
Verstande. Wo nun aber die Poesie eines Volkes noch organisch aus pwa_163.038
sich selber lebt und wächst, da stehn die metrischen Formen desselben pwa_163.039
stäts im innigsten Einklange mit den verschiedenen Gestaltungen ihres pwa_163.040
Wesens: so war es denn auch in dieser Periode der Lyrik. Es zeigt pwa_163.041
sich da nämlich, und zwar mit voller Bestimmtheit zuerst bei Walther

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ist, wie diese aus der epischen. Es ist bereits (S. 145) erwähnt worden, pwa_163.002
wie die lyrische Gelegenheitspoesie Pindars an nicht seltenen Stellen in pwa_163.003
das Lehrhafte hinübergreife, was die hohe religiös-sittliche Richtung pwa_163.004
seines Geistes von selbst mit sich bringt; auch haben wir erwähnt pwa_163.005
(S. 146), wie das gleiche Hinübergreifen bei den Dichtern des Mittelalters, pwa_163.006
in den Sirventêsen der Provenzalen und den ihnen entsprechenden Dichtungen pwa_163.007
der Deutschen wiederkehre. Hier jedoch ist der Grund und pwa_163.008
Anlass dazu meist ein andrer als dort bei Pindar. Die mittelalterlichen pwa_163.009
Dichter waren meist zu bereitwillig, zu freigebig mit solchen pwa_163.010
Dienstgedichten, sie wollten jedwede Gelegenheit poetisch fixieren. pwa_163.011
Aber häufig war da kein einziger Punct vorhanden, an welchem sich pwa_163.012
reine und unmittelbare Lyrik hätte entwickeln können, und es bedurfte, pwa_163.013
eh das Gefühl konnte zu Worte kommen, erst der ausdeutenden Vermittelung pwa_163.014
des Verstandes und seiner lehrhaften Weisungen. Und so pwa_163.015
ist es denn gekommen, dass die Gelegenheitspoesie des Mittelalters pwa_163.016
nicht bloss stellenweise ganz aus dem Episch-lyrischen hinüberstreift pwa_163.017
in das Didactische, sondern dass sie noch öfter ganz und gar nur pwa_163.018
für didactische Lyrik gelten kann. Sowie es aber einmal eine didactischlyrische pwa_163.019
Gelegenheitspoesie gab, konnte es nicht ausbleiben, man musste pwa_163.020
unvermerkt und ohne bewusstes Zuthun auch da, wo es keine eigentliche pwa_163.021
Gelegenheit galt, man musste mit der Lyrik überhaupt in die pwa_163.022
Didaxis hineingerathen.

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Bei Walther von der Vogelweide, wie er denn überhaupt der pwa_163.024
bedeutendste Lyriker unseres Mittelalters ist, zeigt sich das alles noch pwa_163.025
in einem rechten und gesunden Verhältniss. Er giebt dem Verstande pwa_163.026
immer nur dann Raum, wenn ohne sein Zuthun die Production wirklich pwa_163.027
unmöglich wäre; zuletzt aber finden dessen Urtheile ihre Erfüllung pwa_163.028
doch nur in dem Gemüthe des Dichters, und seine Lehren beleben pwa_163.029
sich in dem Licht und der Wärme des Gefühles. So ist es in den pwa_163.030
politischen Gedichten, z. B. in denen auf Pabst Innocenz III. (LB. 14, pwa_163.031
404. 15, 583), die in Ermangelung zahlreicherer und grösserer Ueberreste pwa_163.032
von Archilochus selbst uns über das Wesen der Archilochischen, pwa_163.033
d. h. der lyrischen Satire belehren können; so in den an keine bestimmte pwa_163.034
Gelegenheit geknüpften ethischen Gedichten, die vor dem grösseren pwa_163.035
Theile der gnomischen Poesie der Griechen so viel voraus haben, als pwa_163.036
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sich selber lebt und wächst, da stehn die metrischen Formen desselben pwa_163.039
stäts im innigsten Einklange mit den verschiedenen Gestaltungen ihres pwa_163.040
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Zitationshilfe: Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873, S. 163. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wackernagel_poetik_1873/181>, abgerufen am 24.11.2024.