Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_164.001 pwa_164.021 pwa_164.040 pwa_164.001 pwa_164.021 pwa_164.040 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0182" n="164"/><lb n="pwa_164.001"/> von der Vogelweide, ein fester Unterschied ausgebildet zwischen den <lb n="pwa_164.002"/> Formen der didactischen Lyrik und denen der übrigen. Die epische <lb n="pwa_164.003"/> Lyrik und auch die reine Lyrik hat die Form des Liedes oder des <lb n="pwa_164.004"/> Leiches; da treffen wir immer grössere oder kleinere Reihen von sangbaren <lb n="pwa_164.005"/> Strophen. In der didactischen Lyrik dagegen gilt die Form des <lb n="pwa_164.006"/> sogenannten <hi rendition="#b">Spruches,</hi> um den alten Ausdruck beizubehalten: jedes <lb n="pwa_164.007"/> Gedicht befasst nur eine Strophe, und diese Strophe ist sowohl selbst <lb n="pwa_164.008"/> ein Gebäude von grösserem Umfange, als auch die einzelnen Zeilen <lb n="pwa_164.009"/> lang gestreckt und gedehnt sind. Schon diess macht die Spruchstrophen <lb n="pwa_164.010"/> ziemlich unsangbar; dazu kommt dann noch, dass hier das <lb n="pwa_164.011"/> im melodischen Gesange begründete Gesetz der Dreitheiligkeit nicht <lb n="pwa_164.012"/> selten vernachlässigt wird. Die Sprüche wurden eben auch nicht <lb n="pwa_164.013"/> gesungen, sondern gesprochen, d. h. mehr in Art eines Recitatives <lb n="pwa_164.014"/> vorgetragen. Der eigentliche Gesang verblieb den Liedern und Leichen. <lb n="pwa_164.015"/> Man kann nicht leugnen, dass hier auf beiden Seiten vom besten <lb n="pwa_164.016"/> Tacte die angemessensten Formen sind gefunden worden; dass sich <lb n="pwa_164.017"/> namentlich für didactische Lyrik, d. h. für eine Gattung der Poesie, <lb n="pwa_164.018"/> die nah daran ist Prosa zu werden, keine bessere metrische Gestaltung <lb n="pwa_164.019"/> denken lässt als der einstrophige, lange und breite, unsangbare <lb n="pwa_164.020"/> Spruch. Vgl. Litt. Gesch. S. 233, 31. 237, 10.</p> <p><lb n="pwa_164.021"/> So angemessen also und ganz nach Gebühr Alles in dieser glänzendsten <lb n="pwa_164.022"/> Epoche unsrer mittelalterlichen Litteratur sich verhielt, so <lb n="pwa_164.023"/> ungebührlich ward es schon ein oder zwei Menschenalter später in der <lb n="pwa_164.024"/> Zeit, als deren Repräsentant man Reinmar von Zweter betrachten darf, <lb n="pwa_164.025"/> also um das Jahr 1250 (LB. 1<hi rendition="#sup">4</hi>, 689. 1<hi rendition="#sup">5</hi>, 869). Reinmar von Zweter <lb n="pwa_164.026"/> dichtet gar keine Lieder mehr, sondern nur noch Sprüche: er weiss nur <lb n="pwa_164.027"/> noch von didactischer Lyrik, sei das nun eine gelegenheitliche oder <lb n="pwa_164.028"/> beziehungslose. Aber wie sich das schon an jenem Mangel errathen lässt, <lb n="pwa_164.029"/> er wendet die Didaxis häufig an, wo sie gar nicht an der Stelle ist, <lb n="pwa_164.030"/> und das Gefühl bleibt neben dem Verstande häufig ganz unthätig. Er <lb n="pwa_164.031"/> handelt z. B. auf didactische Weise von der Liebe, während grade <lb n="pwa_164.032"/> hier der unmittelbare Ausdruck der Empfindung besser wäre am Platze <lb n="pwa_164.033"/> gewesen; und er handelt von ihr oft so didactisch, in so abstracter <lb n="pwa_164.034"/> Verständigkeit, dass die Empfindung auch nicht einmal mittelbar davon <lb n="pwa_164.035"/> berührt und erregt wird. Er lehrt also, wo er gar nicht lehren <lb n="pwa_164.036"/> sollte, und belehrt auch da wieder nur den Verstand; das Gefühl <lb n="pwa_164.037"/> aber und mit ihr die Einbildungskraft feiern. In ihm haben wir <lb n="pwa_164.038"/> die gnomische Poesie der Griechen auf deutschem Boden und nach <lb n="pwa_164.039"/> deutscher Weise.</p> <p><lb n="pwa_164.040"/> Dass es auch im siebzehnten Jahrhundert wieder die Gelegenheitspoesie <lb n="pwa_164.041"/> gewesen ist, die ein vornehmlicher Anstoss dazu war, überhaupt </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [164/0182]
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von der Vogelweide, ein fester Unterschied ausgebildet zwischen den pwa_164.002
Formen der didactischen Lyrik und denen der übrigen. Die epische pwa_164.003
Lyrik und auch die reine Lyrik hat die Form des Liedes oder des pwa_164.004
Leiches; da treffen wir immer grössere oder kleinere Reihen von sangbaren pwa_164.005
Strophen. In der didactischen Lyrik dagegen gilt die Form des pwa_164.006
sogenannten Spruches, um den alten Ausdruck beizubehalten: jedes pwa_164.007
Gedicht befasst nur eine Strophe, und diese Strophe ist sowohl selbst pwa_164.008
ein Gebäude von grösserem Umfange, als auch die einzelnen Zeilen pwa_164.009
lang gestreckt und gedehnt sind. Schon diess macht die Spruchstrophen pwa_164.010
ziemlich unsangbar; dazu kommt dann noch, dass hier das pwa_164.011
im melodischen Gesange begründete Gesetz der Dreitheiligkeit nicht pwa_164.012
selten vernachlässigt wird. Die Sprüche wurden eben auch nicht pwa_164.013
gesungen, sondern gesprochen, d. h. mehr in Art eines Recitatives pwa_164.014
vorgetragen. Der eigentliche Gesang verblieb den Liedern und Leichen. pwa_164.015
Man kann nicht leugnen, dass hier auf beiden Seiten vom besten pwa_164.016
Tacte die angemessensten Formen sind gefunden worden; dass sich pwa_164.017
namentlich für didactische Lyrik, d. h. für eine Gattung der Poesie, pwa_164.018
die nah daran ist Prosa zu werden, keine bessere metrische Gestaltung pwa_164.019
denken lässt als der einstrophige, lange und breite, unsangbare pwa_164.020
Spruch. Vgl. Litt. Gesch. S. 233, 31. 237, 10.
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So angemessen also und ganz nach Gebühr Alles in dieser glänzendsten pwa_164.022
Epoche unsrer mittelalterlichen Litteratur sich verhielt, so pwa_164.023
ungebührlich ward es schon ein oder zwei Menschenalter später in der pwa_164.024
Zeit, als deren Repräsentant man Reinmar von Zweter betrachten darf, pwa_164.025
also um das Jahr 1250 (LB. 14, 689. 15, 869). Reinmar von Zweter pwa_164.026
dichtet gar keine Lieder mehr, sondern nur noch Sprüche: er weiss nur pwa_164.027
noch von didactischer Lyrik, sei das nun eine gelegenheitliche oder pwa_164.028
beziehungslose. Aber wie sich das schon an jenem Mangel errathen lässt, pwa_164.029
er wendet die Didaxis häufig an, wo sie gar nicht an der Stelle ist, pwa_164.030
und das Gefühl bleibt neben dem Verstande häufig ganz unthätig. Er pwa_164.031
handelt z. B. auf didactische Weise von der Liebe, während grade pwa_164.032
hier der unmittelbare Ausdruck der Empfindung besser wäre am Platze pwa_164.033
gewesen; und er handelt von ihr oft so didactisch, in so abstracter pwa_164.034
Verständigkeit, dass die Empfindung auch nicht einmal mittelbar davon pwa_164.035
berührt und erregt wird. Er lehrt also, wo er gar nicht lehren pwa_164.036
sollte, und belehrt auch da wieder nur den Verstand; das Gefühl pwa_164.037
aber und mit ihr die Einbildungskraft feiern. In ihm haben wir pwa_164.038
die gnomische Poesie der Griechen auf deutschem Boden und nach pwa_164.039
deutscher Weise.
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Dass es auch im siebzehnten Jahrhundert wieder die Gelegenheitspoesie pwa_164.041
gewesen ist, die ein vornehmlicher Anstoss dazu war, überhaupt
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