pwa_165.001 beinahe alle Lyrik in die Didactik hineinzutreiben, braucht nach dem, pwa_165.002 was schon früher über dieselbe ist bemerkt worden (S. 150), hier nicht pwa_165.003 weiter ausgeführt zu werden.
pwa_165.004 Jetzt ist endlich noch von einer Gattung didactischer Lyrik zu pwa_165.005 sprechen, dem eigentlichen Lehrgedichte. Das Lehrgedicht im besonderen pwa_165.006 Sinne dieses Wortes verhält sich zu den so eben behandelten pwa_165.007 Sprüchen des Mittelalters, wie sich die Epopöie zum altepischen Liede pwa_165.008 verhält, d. h. während der Spruch nur Eine hauptsächliche Lehre nebst pwa_165.009 den dazu gehörigen Empfindungen enthält, umfasst das Lehrgedicht pwa_165.010 einen ganzen, um einen gemeinsamen Mittelpunct vereinigten Cyclus pwa_165.011 von Lehren, ein ganzes System von didactischen Einzelheiten. Und pwa_165.012 wie die Epopöie, um die grade Linie des historischen Verlaufes pwa_165.013 scheinbar abzukürzen, seitwärts gehende Episoden liebt, so auch das pwa_165.014 Lehrgedicht, damit man nicht an dem fortgesponnenen Faden verständiger pwa_165.015 Deductionen ermüde. Wir haben schon zu Anfange dieses pwa_165.016 Abschnittes (S. 153) eine Art von Lehrgedichten, die sogenannten reinen pwa_165.017 Lehrgedichte, berührt, denen man nur um der metrischen Form willen pwa_165.018 den Namen von Gedichten geben kann, die sonst aber, da sie lediglich pwa_165.019 Producte des Verstandes sind und auch nur vom Verstande können pwa_165.020 reproduciert werden, durchaus zur Prosa gehören. Mithin verbleibt pwa_165.021 jetzt dieser Name lediglich solchen umfangreichen, systematisch pwa_165.022 lehrenden Gedichten, in denen es auf Belebung des Gefühles abgesehen pwa_165.023 ist, in denen mithin nothwendiger Weise auch die Einbildungskraft pwa_165.024 zu schaffen hat. Obschon nun solchen Dichtungen der Anspruch pwa_165.025 auf den Namen von Dichtungen weniger zu verweigern wäre, so sind pwa_165.026 doch auch gegen sie allerlei gerechte Bedenklichkeiten vorzubringen. pwa_165.027 Die systematische Klarheit auf der einen Seite wird fort und fort verlieren pwa_165.028 durch die Empfindungen, die sich zwischen die Deductionen drängen, pwa_165.029 und durch die Einbildungskraft, die mit ihren concreten Wirklichkeiten pwa_165.030 hineinspielt; und doch werden sich wieder auf der andern pwa_165.031 Seite Einbildung und Gefühl in ihrer Thätigkeit fortwährend gehemmt pwa_165.032 und gehindert finden durch die Kettenglieder der Lehre. Sodann pwa_165.033 wenn der Gegenstand des Lehrgedichtes der menschlichen Wissenschaft pwa_165.034 angehört, wenn es ein s. g. scientifisches Lehrgedicht ist, wie pwa_165.035 die Einen sagen, oder wie die Andern, ein niederes, so kann das pwa_165.036 Gedicht beinahe über Nacht um seine Existenz kommen: es braucht pwa_165.037 nur heut Jemand ein neues und besseres System z. B. der Physiologie pwa_165.038 oder der Psychologie aufzustellen, so hat das Lehrgedicht, das noch pwa_165.039 dem System von gestern folgt, keine Wahrheit mehr. Ein solches pwa_165.040 vergängliches und vergangenes Lehrgedicht sind Die fünf Sinne von pwa_165.041 Barthold Heinrich Brockes (1680-1747); und je weitere Fortschritte
pwa_165.001 beinahe alle Lyrik in die Didactik hineinzutreiben, braucht nach dem, pwa_165.002 was schon früher über dieselbe ist bemerkt worden (S. 150), hier nicht pwa_165.003 weiter ausgeführt zu werden.
pwa_165.004 Jetzt ist endlich noch von einer Gattung didactischer Lyrik zu pwa_165.005 sprechen, dem eigentlichen Lehrgedichte. Das Lehrgedicht im besonderen pwa_165.006 Sinne dieses Wortes verhält sich zu den so eben behandelten pwa_165.007 Sprüchen des Mittelalters, wie sich die Epopöie zum altepischen Liede pwa_165.008 verhält, d. h. während der Spruch nur Eine hauptsächliche Lehre nebst pwa_165.009 den dazu gehörigen Empfindungen enthält, umfasst das Lehrgedicht pwa_165.010 einen ganzen, um einen gemeinsamen Mittelpunct vereinigten Cyclus pwa_165.011 von Lehren, ein ganzes System von didactischen Einzelheiten. Und pwa_165.012 wie die Epopöie, um die grade Linie des historischen Verlaufes pwa_165.013 scheinbar abzukürzen, seitwärts gehende Episoden liebt, so auch das pwa_165.014 Lehrgedicht, damit man nicht an dem fortgesponnenen Faden verständiger pwa_165.015 Deductionen ermüde. Wir haben schon zu Anfange dieses pwa_165.016 Abschnittes (S. 153) eine Art von Lehrgedichten, die sogenannten reinen pwa_165.017 Lehrgedichte, berührt, denen man nur um der metrischen Form willen pwa_165.018 den Namen von Gedichten geben kann, die sonst aber, da sie lediglich pwa_165.019 Producte des Verstandes sind und auch nur vom Verstande können pwa_165.020 reproduciert werden, durchaus zur Prosa gehören. Mithin verbleibt pwa_165.021 jetzt dieser Name lediglich solchen umfangreichen, systematisch pwa_165.022 lehrenden Gedichten, in denen es auf Belebung des Gefühles abgesehen pwa_165.023 ist, in denen mithin nothwendiger Weise auch die Einbildungskraft pwa_165.024 zu schaffen hat. Obschon nun solchen Dichtungen der Anspruch pwa_165.025 auf den Namen von Dichtungen weniger zu verweigern wäre, so sind pwa_165.026 doch auch gegen sie allerlei gerechte Bedenklichkeiten vorzubringen. pwa_165.027 Die systematische Klarheit auf der einen Seite wird fort und fort verlieren pwa_165.028 durch die Empfindungen, die sich zwischen die Deductionen drängen, pwa_165.029 und durch die Einbildungskraft, die mit ihren concreten Wirklichkeiten pwa_165.030 hineinspielt; und doch werden sich wieder auf der andern pwa_165.031 Seite Einbildung und Gefühl in ihrer Thätigkeit fortwährend gehemmt pwa_165.032 und gehindert finden durch die Kettenglieder der Lehre. Sodann pwa_165.033 wenn der Gegenstand des Lehrgedichtes der menschlichen Wissenschaft pwa_165.034 angehört, wenn es ein s. g. scientifisches Lehrgedicht ist, wie pwa_165.035 die Einen sagen, oder wie die Andern, ein niederes, so kann das pwa_165.036 Gedicht beinahe über Nacht um seine Existenz kommen: es braucht pwa_165.037 nur heut Jemand ein neues und besseres System z. B. der Physiologie pwa_165.038 oder der Psychologie aufzustellen, so hat das Lehrgedicht, das noch pwa_165.039 dem System von gestern folgt, keine Wahrheit mehr. Ein solches pwa_165.040 vergängliches und vergangenes Lehrgedicht sind Die fünf Sinne von pwa_165.041 Barthold Heinrich Brockes (1680–1747); und je weitere Fortschritte
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Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873, S. 165. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wackernagel_poetik_1873/183>, abgerufen am 09.11.2024.
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