Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_175.001 pwa_175.005 pwa_175.010 pwa_175.014 pwa_175.026 pwa_175.001 pwa_175.005 pwa_175.010 pwa_175.014 pwa_175.026 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0193" n="175"/><lb n="pwa_175.001"/> vernehmen, aber wiederum keine Handlung; für jenen würde nur das <lb n="pwa_175.002"/> epische Element in der gröbsten Handgreiflichkeit, für diesen nur das <lb n="pwa_175.003"/> lyrische in unsicherer Anhaltlosigkeit vorhanden sein. Erst aus der <lb n="pwa_175.004"/> Durchdringung beider ergiebt sich die eigentliche dramatische Handlung.</p> <p><lb n="pwa_175.005"/> Drama ist mithin ein Verlauf von epischen Begebenheiten, angeschaut <lb n="pwa_175.006"/> in einem Verlaufe von lyrischen Zuständen und dargestellt in <lb n="pwa_175.007"/> Form des Gespräches mit Begleitung des Gebärdenspiels; oder um <lb n="pwa_175.008"/> die Definition kürzer zu fassen, eine dialogisch und mimisch dargestellte <lb n="pwa_175.009"/> Handlung.</p> <p><lb n="pwa_175.010"/> Ehe wir uns zur nähern Erörterung der Gesetze wenden, denen <lb n="pwa_175.011"/> das Drama im Allgemeinen folgt, und zur Betrachtung seiner einzelnen <lb n="pwa_175.012"/> Gattungen, wird es zweckdienlich sein, der Geschichte desselben in <lb n="pwa_175.013"/> etwas nachzufragen.</p> <p><lb n="pwa_175.014"/> Schon wenn man lediglich das innere Verhältniss ins Auge fasste, <lb n="pwa_175.015"/> das zwischen den Productionen der dramatischen Kunst und denen <lb n="pwa_175.016"/> der Epik und der Lyrik stattfindet, dürfte man getrost behaupten, <lb n="pwa_175.017"/> das Drama müsse jünger sein als Epos und Lyrik: diese vollendete <lb n="pwa_175.018"/> Subjectivierung des Objectes, diese organisch untrennbare Verschmelzung <lb n="pwa_175.019"/> von Begebenheit und Empfindung sei erst da möglich gewesen, <lb n="pwa_175.020"/> als man sowohl in der Epik die Kunst der Erzählung, wie auch in <lb n="pwa_175.021"/> der Lyrik die Kunst, innere Zustände zu entwickeln, bereits zur Meisterschaft <lb n="pwa_175.022"/> ausgebildet hatte, als man es auf beiden Gebieten zu nichts <lb n="pwa_175.023"/> Weiterem mehr bringen konnte. Aber man braucht das nicht bloss <lb n="pwa_175.024"/> zu vermuthen und es als höchst wahrscheinlich zu behaupten: man <lb n="pwa_175.025"/> kann es auch mit historischer Gewissheit nachweisen.</p> <p><lb n="pwa_175.026"/> In Deutschland war das Drama von den ältesten Zeiten her <lb n="pwa_175.027"/> mannigfach angebahnt. An mimischen Künsten hat unser Volk immer <lb n="pwa_175.028"/> Freude gehabt: schon Tacitus erzählt in seiner Germania (cp. 24) von <lb n="pwa_175.029"/> Waffentänzen als einer Art theatralischer Belustigung. Die dramatische <lb n="pwa_175.030"/> Gestaltung der Rede war auch schon vorbereitet und gleichsam vorgeahnt <lb n="pwa_175.031"/> in der alten, echtdeutschen Weise, die epische Erzählung mit Dialog zu <lb n="pwa_175.032"/> begleiten. Dichtungen jedoch, die mit einigem Recht den Namen von <lb n="pwa_175.033"/> dramatischen ansprechen dürften, zeigen sich in Deutschland erst während <lb n="pwa_175.034"/> des zwölften Jahrhunderts, also zu einer Zeit, wo die alte Epik <lb n="pwa_175.035"/> des Volkes schon anfieng in die Kunstepopöie überzugehn, und wo die <lb n="pwa_175.036"/> erste Entwickelung der lyrischen Poesie sich in den zwiespältigen halb <lb n="pwa_175.037"/> epischen, halb lyrischen Liedern zeigte. Indessen war, da es eben noch <lb n="pwa_175.038"/> keine rechte Lyrik gab, auch die Zeit des Dramas noch nicht recht <lb n="pwa_175.039"/> gekommen. Jene dramatischen Dichtungen hatten ihren Ursprung auch <lb n="pwa_175.040"/> nicht auf deutschem Boden, innerhalb der Nation: sie sollten nur die <lb n="pwa_175.041"/> Feierlichkeiten der Kirche noch herrlicher machen, standen im Dienste </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [175/0193]
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vernehmen, aber wiederum keine Handlung; für jenen würde nur das pwa_175.002
epische Element in der gröbsten Handgreiflichkeit, für diesen nur das pwa_175.003
lyrische in unsicherer Anhaltlosigkeit vorhanden sein. Erst aus der pwa_175.004
Durchdringung beider ergiebt sich die eigentliche dramatische Handlung.
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Drama ist mithin ein Verlauf von epischen Begebenheiten, angeschaut pwa_175.006
in einem Verlaufe von lyrischen Zuständen und dargestellt in pwa_175.007
Form des Gespräches mit Begleitung des Gebärdenspiels; oder um pwa_175.008
die Definition kürzer zu fassen, eine dialogisch und mimisch dargestellte pwa_175.009
Handlung.
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Ehe wir uns zur nähern Erörterung der Gesetze wenden, denen pwa_175.011
das Drama im Allgemeinen folgt, und zur Betrachtung seiner einzelnen pwa_175.012
Gattungen, wird es zweckdienlich sein, der Geschichte desselben in pwa_175.013
etwas nachzufragen.
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Schon wenn man lediglich das innere Verhältniss ins Auge fasste, pwa_175.015
das zwischen den Productionen der dramatischen Kunst und denen pwa_175.016
der Epik und der Lyrik stattfindet, dürfte man getrost behaupten, pwa_175.017
das Drama müsse jünger sein als Epos und Lyrik: diese vollendete pwa_175.018
Subjectivierung des Objectes, diese organisch untrennbare Verschmelzung pwa_175.019
von Begebenheit und Empfindung sei erst da möglich gewesen, pwa_175.020
als man sowohl in der Epik die Kunst der Erzählung, wie auch in pwa_175.021
der Lyrik die Kunst, innere Zustände zu entwickeln, bereits zur Meisterschaft pwa_175.022
ausgebildet hatte, als man es auf beiden Gebieten zu nichts pwa_175.023
Weiterem mehr bringen konnte. Aber man braucht das nicht bloss pwa_175.024
zu vermuthen und es als höchst wahrscheinlich zu behaupten: man pwa_175.025
kann es auch mit historischer Gewissheit nachweisen.
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In Deutschland war das Drama von den ältesten Zeiten her pwa_175.027
mannigfach angebahnt. An mimischen Künsten hat unser Volk immer pwa_175.028
Freude gehabt: schon Tacitus erzählt in seiner Germania (cp. 24) von pwa_175.029
Waffentänzen als einer Art theatralischer Belustigung. Die dramatische pwa_175.030
Gestaltung der Rede war auch schon vorbereitet und gleichsam vorgeahnt pwa_175.031
in der alten, echtdeutschen Weise, die epische Erzählung mit Dialog zu pwa_175.032
begleiten. Dichtungen jedoch, die mit einigem Recht den Namen von pwa_175.033
dramatischen ansprechen dürften, zeigen sich in Deutschland erst während pwa_175.034
des zwölften Jahrhunderts, also zu einer Zeit, wo die alte Epik pwa_175.035
des Volkes schon anfieng in die Kunstepopöie überzugehn, und wo die pwa_175.036
erste Entwickelung der lyrischen Poesie sich in den zwiespältigen halb pwa_175.037
epischen, halb lyrischen Liedern zeigte. Indessen war, da es eben noch pwa_175.038
keine rechte Lyrik gab, auch die Zeit des Dramas noch nicht recht pwa_175.039
gekommen. Jene dramatischen Dichtungen hatten ihren Ursprung auch pwa_175.040
nicht auf deutschem Boden, innerhalb der Nation: sie sollten nur die pwa_175.041
Feierlichkeiten der Kirche noch herrlicher machen, standen im Dienste
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