pwa_187.001 entweder als fremdes Glied ausserhalb des dramatischen Organismus, pwa_187.002 oder aber die Hauptbegebenheit ist selber nicht die rechte, ist nicht pwa_187.003 der eigentliche Abschluss, ist nicht die volle und folgerechte Wirkung pwa_187.004 aller vorangegangenen Motive.
pwa_187.005 Vielleicht der grösste Meister im Dichten recht eigentlich concentrierender pwa_187.006 Hauptbegebenheiten ist Shakspeare. Er liebt es wie Wenige, pwa_187.007 ein Drama so zu bauen, dass es scheinbar aus mehreren Handlungen pwa_187.008 zusammengesetzt ist, bis sich die verschiedenen Wege, auf denen der pwa_187.009 dramatische Verlauf vorwärts wandelt, immer näher und näher rücken, pwa_187.010 und sich immer mehr und mehr zeigt, welcher der Hauptweg, welches pwa_187.011 die Hauptperson sei; endlich aber vereinigen sie sich gänzlich, die pwa_187.012 abschliessende Hauptbegebenheit tritt ein, und die Einheit der Hauptperson, pwa_187.013 die Einheit der Handlung stehn triumphierend da. So im pwa_187.014 Kaufmann von Venedig, wo anfangs nur leise sich berührend, später pwa_187.015 immer mehr und mehr in einander geschlagen zwei Fäden zu Einem pwa_187.016 gemeinsamen Ziele hinlaufen, ein Rechtshandel und ein Liebesabenteuer; pwa_187.017 so in Heinrich IV., den man sehr äusserlich betrachten muss, wenn pwa_187.018 man den engen Zusammenhang und die abschliessende Vereinigung pwa_187.019 verkennen will, die zwischen den scheinbaren zwei Hälften der Handlung pwa_187.020 bestehn, der ernsthaften, deren Träger der junge Königssohn, pwa_187.021 Heinrich V., und der komischen, deren Träger Falstaff ist. Je mehr pwa_187.022 auf der komischen Seite Falstaff sich einbildet, den königlichen Jüngling pwa_187.023 in sein Lotterleben verwickelt zu haben, desto höher erhebt sich pwa_187.024 dieser darüber auf der ernsthaften, bis zuletzt die Handlung umschlägt pwa_187.025 und sich entscheidet, Heinrich in königlicher Würde dasteht, und Falstaff pwa_187.026 sich tief unter ihm in Staub und Schmutz verliert. Das Schönste pwa_187.027 und Grösste aber in dieser Art ist König Lear. Hier findet der äussere pwa_187.028 Zwiespalt der Handlung nicht nur seine Aufhebung in der letzten Hauptbegebenheit, pwa_187.029 sondern er ist schon von Anfang an in der Idee dieser pwa_187.030 gewaltigen Tragödie auf das vollkommenste gelöst und ausgesöhnt pwa_187.031 gewesen: denn schon von Anfang an prägt sich diese zugleich nach pwa_187.032 zwei Seiten hin in den Begebenheiten aus, und der eine Theil der pwa_187.033 Handlung spiegelt sich nur in dem andern wie das Bild in seinem pwa_187.034 Gegenbilde wieder. Auf der einen Seite steht ein König, der von den pwa_187.035 vorgezogenen Töchtern verstossen und zum Wahnsinn gebracht, von pwa_187.036 der verstossnen aber gehegt und gepflegt wird; auf der andern Seite pwa_187.037 wiederum ein Vater, den der vorgezogene Sohn blendet und ins Elend pwa_187.038 stösst, der verstossne Sohn unerkannt in der Blindheit leitet; endlich pwa_187.039 aber rächt eben dieser zugleich den König und den eigenen Vater. pwa_187.040 Auch in Schillers letztem Drama, im Wilhelm Tell, sind zwei solche pwa_187.041 neben einander herlaufende Handlungen, das politische Treiben der
pwa_187.001 entweder als fremdes Glied ausserhalb des dramatischen Organismus, pwa_187.002 oder aber die Hauptbegebenheit ist selber nicht die rechte, ist nicht pwa_187.003 der eigentliche Abschluss, ist nicht die volle und folgerechte Wirkung pwa_187.004 aller vorangegangenen Motive.
pwa_187.005 Vielleicht der grösste Meister im Dichten recht eigentlich concentrierender pwa_187.006 Hauptbegebenheiten ist Shakspeare. Er liebt es wie Wenige, pwa_187.007 ein Drama so zu bauen, dass es scheinbar aus mehreren Handlungen pwa_187.008 zusammengesetzt ist, bis sich die verschiedenen Wege, auf denen der pwa_187.009 dramatische Verlauf vorwärts wandelt, immer näher und näher rücken, pwa_187.010 und sich immer mehr und mehr zeigt, welcher der Hauptweg, welches pwa_187.011 die Hauptperson sei; endlich aber vereinigen sie sich gänzlich, die pwa_187.012 abschliessende Hauptbegebenheit tritt ein, und die Einheit der Hauptperson, pwa_187.013 die Einheit der Handlung stehn triumphierend da. So im pwa_187.014 Kaufmann von Venedig, wo anfangs nur leise sich berührend, später pwa_187.015 immer mehr und mehr in einander geschlagen zwei Fäden zu Einem pwa_187.016 gemeinsamen Ziele hinlaufen, ein Rechtshandel und ein Liebesabenteuer; pwa_187.017 so in Heinrich IV., den man sehr äusserlich betrachten muss, wenn pwa_187.018 man den engen Zusammenhang und die abschliessende Vereinigung pwa_187.019 verkennen will, die zwischen den scheinbaren zwei Hälften der Handlung pwa_187.020 bestehn, der ernsthaften, deren Träger der junge Königssohn, pwa_187.021 Heinrich V., und der komischen, deren Träger Falstaff ist. Je mehr pwa_187.022 auf der komischen Seite Falstaff sich einbildet, den königlichen Jüngling pwa_187.023 in sein Lotterleben verwickelt zu haben, desto höher erhebt sich pwa_187.024 dieser darüber auf der ernsthaften, bis zuletzt die Handlung umschlägt pwa_187.025 und sich entscheidet, Heinrich in königlicher Würde dasteht, und Falstaff pwa_187.026 sich tief unter ihm in Staub und Schmutz verliert. Das Schönste pwa_187.027 und Grösste aber in dieser Art ist König Lear. Hier findet der äussere pwa_187.028 Zwiespalt der Handlung nicht nur seine Aufhebung in der letzten Hauptbegebenheit, pwa_187.029 sondern er ist schon von Anfang an in der Idee dieser pwa_187.030 gewaltigen Tragödie auf das vollkommenste gelöst und ausgesöhnt pwa_187.031 gewesen: denn schon von Anfang an prägt sich diese zugleich nach pwa_187.032 zwei Seiten hin in den Begebenheiten aus, und der eine Theil der pwa_187.033 Handlung spiegelt sich nur in dem andern wie das Bild in seinem pwa_187.034 Gegenbilde wieder. Auf der einen Seite steht ein König, der von den pwa_187.035 vorgezogenen Töchtern verstossen und zum Wahnsinn gebracht, von pwa_187.036 der verstossnen aber gehegt und gepflegt wird; auf der andern Seite pwa_187.037 wiederum ein Vater, den der vorgezogene Sohn blendet und ins Elend pwa_187.038 stösst, der verstossne Sohn unerkannt in der Blindheit leitet; endlich pwa_187.039 aber rächt eben dieser zugleich den König und den eigenen Vater. pwa_187.040 Auch in Schillers letztem Drama, im Wilhelm Tell, sind zwei solche pwa_187.041 neben einander herlaufende Handlungen, das politische Treiben der
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Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873, S. 187. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wackernagel_poetik_1873/205>, abgerufen am 21.11.2024.
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