pwa_188.001 Verschwornen des Rütli auf der einen, Tells Privathandel mit Gessler pwa_188.002 auf der andern Seite; und auch diese treffen in der letzten Scene pwa_188.003 zusammen. Jedoch dieses Zusammentreffen ist lediglich theatralisch, pwa_188.004 nicht aber eigentlich dramatisch, ist keine rechte, wahre Einigung pwa_188.005 zweier bis dahin nur äusserlich getrennter Richtungen. Tells Privathandel pwa_188.006 ist eben nur ein Privathandel: er zieht sich mit allem, was er pwa_188.007 sinnt und thut, geflissentlich von dem Sinnen und Thun seiner Landsleute pwa_188.008 zurück; er will nirgend in der Sache sein. Sie haben mit ihm, pwa_188.009 er hat mit ihnen nichts zu schaffen; und es ist also eine blosse pwa_188.010 Gewaltsamkeit, wenn er in jener Schlussscene dennoch als die Hauptperson pwa_188.011 und seine That als die Hauptbegebenheit des Dramas hingestellt pwa_188.012 wird.
pwa_188.013 Noch ist von dem Verfahren zu reden, das der dramatische Dichter pwa_188.014 beobachtet, um die Handlung auf diese eine Hauptbegebenheit und pwa_188.015 damit zu ihrem vollständigen Abschluss, ihrem Ziel und Zwecke hinzuführen. pwa_188.016 Einmal also muss die Handlung in einem stätigen, ununterbrochnen pwa_188.017 Verlauf vorwärts schreiten; sie darf nicht stocken: denn sie pwa_188.018 könnte es nur, indem man Dinge hineinbrächte, die nicht in den causalen pwa_188.019 Zusammenhang gehörten, die also die Einheit verletzten; sie pwa_188.020 darf aber auch nicht springen; es dürfen keine wesentlichen und nothwendig pwa_188.021 geforderten Motive übergangen werden: denn auch damit wäre pwa_188.022 die Einheit aufgehoben, da Einheit nur bei Vollständigkeit bestehn pwa_188.023 kann. In jener Weise fehlt Euripides gern, in dieser Aeschylus.
pwa_188.024 Sodann aber zerfällt die Handlung überall, wo sich ihr Verlauf pwa_188.025 recht organisch gestaltet, in drei unterscheidbare, aber eng mit einander pwa_188.026 verwachsene Hauptglieder, in die Exposition, die Verwickelung pwa_188.027 und die Auflösung. Die Exposition giebt gleichsam den Zettel des pwa_188.028 Gewebes: hier lernt man zuerst die Personen kennen, die handeln pwa_188.029 sollen, namentlich die Hauptperson; man erfährt die obwaltenden pwa_188.030 Umstände, die Pläne und Wünsche und Besorgnisse der Handelnden: pwa_188.031 kurz, Grund und Boden der Dichtung werden gelegt und gezeigt. pwa_188.032 Dann folgt die Verwickelung: die Querfäden fahren durch den Zettel; pwa_188.033 die Pläne der Handelnden arbeiten einander entgegen; ihre Besorgnisse pwa_188.034 wachsen, ihre Wünsche durchkreuzen sich: Interesse kämpft gegen pwa_188.035 Interesse; und so ist denn hier das eigentliche Gebiet der wahren pwa_188.036 Handlung. Im dritten Theil, in der Auflösung, entscheidet sich der pwa_188.037 Kampf: das Gewebe ist fertig, oder es wird auch Alles auf ein Mal pwa_188.038 zerrissen; die Hauptperson hat mit der Hauptbegebenheit alle Hindernisse pwa_188.039 überwunden, und ihr bleibt nun nichts mehr zu thun übrig; oder pwa_188.040 sie unterliegt mit dem letzten entscheidenden Schlage der Uebermacht, pwa_188.041 gegen die sie vorher angekämpft hat.
pwa_188.001 Verschwornen des Rütli auf der einen, Tells Privathandel mit Gessler pwa_188.002 auf der andern Seite; und auch diese treffen in der letzten Scene pwa_188.003 zusammen. Jedoch dieses Zusammentreffen ist lediglich theatralisch, pwa_188.004 nicht aber eigentlich dramatisch, ist keine rechte, wahre Einigung pwa_188.005 zweier bis dahin nur äusserlich getrennter Richtungen. Tells Privathandel pwa_188.006 ist eben nur ein Privathandel: er zieht sich mit allem, was er pwa_188.007 sinnt und thut, geflissentlich von dem Sinnen und Thun seiner Landsleute pwa_188.008 zurück; er will nirgend in der Sache sein. Sie haben mit ihm, pwa_188.009 er hat mit ihnen nichts zu schaffen; und es ist also eine blosse pwa_188.010 Gewaltsamkeit, wenn er in jener Schlussscene dennoch als die Hauptperson pwa_188.011 und seine That als die Hauptbegebenheit des Dramas hingestellt pwa_188.012 wird.
pwa_188.013 Noch ist von dem Verfahren zu reden, das der dramatische Dichter pwa_188.014 beobachtet, um die Handlung auf diese eine Hauptbegebenheit und pwa_188.015 damit zu ihrem vollständigen Abschluss, ihrem Ziel und Zwecke hinzuführen. pwa_188.016 Einmal also muss die Handlung in einem stätigen, ununterbrochnen pwa_188.017 Verlauf vorwärts schreiten; sie darf nicht stocken: denn sie pwa_188.018 könnte es nur, indem man Dinge hineinbrächte, die nicht in den causalen pwa_188.019 Zusammenhang gehörten, die also die Einheit verletzten; sie pwa_188.020 darf aber auch nicht springen; es dürfen keine wesentlichen und nothwendig pwa_188.021 geforderten Motive übergangen werden: denn auch damit wäre pwa_188.022 die Einheit aufgehoben, da Einheit nur bei Vollständigkeit bestehn pwa_188.023 kann. In jener Weise fehlt Euripides gern, in dieser Aeschylus.
pwa_188.024 Sodann aber zerfällt die Handlung überall, wo sich ihr Verlauf pwa_188.025 recht organisch gestaltet, in drei unterscheidbare, aber eng mit einander pwa_188.026 verwachsene Hauptglieder, in die Exposition, die Verwickelung pwa_188.027 und die Auflösung. Die Exposition giebt gleichsam den Zettel des pwa_188.028 Gewebes: hier lernt man zuerst die Personen kennen, die handeln pwa_188.029 sollen, namentlich die Hauptperson; man erfährt die obwaltenden pwa_188.030 Umstände, die Pläne und Wünsche und Besorgnisse der Handelnden: pwa_188.031 kurz, Grund und Boden der Dichtung werden gelegt und gezeigt. pwa_188.032 Dann folgt die Verwickelung: die Querfäden fahren durch den Zettel; pwa_188.033 die Pläne der Handelnden arbeiten einander entgegen; ihre Besorgnisse pwa_188.034 wachsen, ihre Wünsche durchkreuzen sich: Interesse kämpft gegen pwa_188.035 Interesse; und so ist denn hier das eigentliche Gebiet der wahren pwa_188.036 Handlung. Im dritten Theil, in der Auflösung, entscheidet sich der pwa_188.037 Kampf: das Gewebe ist fertig, oder es wird auch Alles auf ein Mal pwa_188.038 zerrissen; die Hauptperson hat mit der Hauptbegebenheit alle Hindernisse pwa_188.039 überwunden, und ihr bleibt nun nichts mehr zu thun übrig; oder pwa_188.040 sie unterliegt mit dem letzten entscheidenden Schlage der Uebermacht, pwa_188.041 gegen die sie vorher angekämpft hat.
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Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873, S. 188. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wackernagel_poetik_1873/206>, abgerufen am 21.11.2024.
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