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Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873

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Wirklichkeit und dem künstlerischen Scheine traf doch immer nur pwa_194.002
ungefähr. Man kann annehmen, dass die Aufführung eines ganz vollendeten pwa_194.003
griechischen Dramas allerhöchstens drei Stunden lang gedauert pwa_194.004
habe: aber es möchte schwer sein, ein Drama zu finden, dessen pwa_194.005
Begebenheiten nicht einen viel längeren, einen wenigstens viermal so pwa_194.006
langen Zeitverlauf voraussetzten. Das einzige Opfer, das in Betreff pwa_194.007
der Einheit der Zeit die griechischen Dramatiker den äussern Umständen pwa_194.008
brachten, war demnach diess: sie concentrierten den dramatischen pwa_194.009
Stoff so sehr auf die allerwesentlichsten Momente, dass die Begebenheiten, pwa_194.010
um in der Wirklichkeit zu geschehen, etwa einen Tag gebraucht pwa_194.011
hätten, d. h. einen Sonnenlauf von Morgen bis Abend; manche aber pwa_194.012
haben in jene zwei, drei Stunden einen noch viel längeren Zeitraum pwa_194.013
eingeschlossen, z. B. Aeschylus im Agamemnon. Es erweist sich mithin pwa_194.014
diese sogenannte Einheit der Zeit als eine sehr ideale; die Einheit pwa_194.015
des Ortes aber war so durch die ganze Einrichtung der Bühne bedingt, pwa_194.016
dass man sich ihr ohne Weiteres ergeben musste. Eine kühne Ausnahme pwa_194.017
gestattete sich Aeschylus in den Eumeniden, wo die Zuschauer pwa_194.018
zuerst den Tempel Apollos zu Delphi, dann das Heiligthum der Pallas pwa_194.019
zu Athen vor sich haben. Sonst aber beachtete man diese räumliche pwa_194.020
Einheit, und es ist nicht zu verkennen, dass sie auf die ganze Art pwa_194.021
und Weise der dramatischen Production den wichtigsten Einfluss ausübte pwa_194.022
und auch zu einem räumlichen Simplificieren und Concentrieren pwa_194.023
derselben drängte. Man gewöhnte sich so sehr an diese räumliche pwa_194.024
Zusammendrängung, dass auch die jüngere Comödie, die doch keinen pwa_194.025
Chor mehr besass, die schon Acte abtheilte, dennoch dabei verharrte; pwa_194.026
und dass Aristoteles von der Einheit des Ortes gar nichts lehrte, weil pwa_194.027
er nicht daran dachte, dass es anders sein könnte. Was aber die pwa_194.028
Einheit der Zeit betrifft, so bestimmt er als äusserstes Mass der Handlung pwa_194.029
eben die Länge des Sonnenlaufes: das lässt voraussetzen, dass pwa_194.030
dieses Mass mehr als ein Mal sei überschritten worden, wie denn auch pwa_194.031
Aeschylus es wirklich überschritten hat.

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gebunden seien. Wir brauchen bloss die äussern Umstände zu erwägen. pwa_194.034
Einmal die historischen Präcedentien des Mittelalters und des sechzehnten pwa_194.035
Jahrhunderts wissen davon nichts. Sodann: wir haben keinen Chor, pwa_194.036
der die Handlung nothwendig zwischen eine und dieselbe Scenerie festbannte: pwa_194.037
sondern wir haben Zwischenacte, die wir uns, wenn wir nur pwa_194.038
irgend wollen, tagelang denken können, wenn sie auch wirklich nur pwa_194.039
minutenlang dauern sollten. Mithin gelten Einheit der Zeit und Einheit pwa_194.040
des Ortes bei uns nur in so weit, als sie geboten sind durch die pwa_194.041
Einheit der Handlung und durch die Stätigkeit ihres Verlaufes. Wir

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Wirklichkeit und dem künstlerischen Scheine traf doch immer nur pwa_194.002
ungefähr. Man kann annehmen, dass die Aufführung eines ganz vollendeten pwa_194.003
griechischen Dramas allerhöchstens drei Stunden lang gedauert pwa_194.004
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Begebenheiten nicht einen viel längeren, einen wenigstens viermal so pwa_194.006
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des Ortes aber war so durch die ganze Einrichtung der Bühne bedingt, pwa_194.016
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Einheit, und es ist nicht zu verkennen, dass sie auf die ganze Art pwa_194.021
und Weise der dramatischen Production den wichtigsten Einfluss ausübte pwa_194.022
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er nicht daran dachte, dass es anders sein könnte. Was aber die pwa_194.028
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dieses Mass mehr als ein Mal sei überschritten worden, wie denn auch pwa_194.031
Aeschylus es wirklich überschritten hat.

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Jetzt fragt sichs, ob und inwiefern auch wir an diese Einheiten pwa_194.033
gebunden seien. Wir brauchen bloss die äussern Umstände zu erwägen. pwa_194.034
Einmal die historischen Präcedentien des Mittelalters und des sechzehnten pwa_194.035
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Zitationshilfe: Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873, S. 194. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wackernagel_poetik_1873/212>, abgerufen am 21.11.2024.