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Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873

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dürfen z. B. nicht in der zweiten Scene eine Begebenheit darstellen pwa_195.002
wollen, die denen der ersten Scene gleichzeitig wäre oder gar früher pwa_195.003
geschehen als diese: während allerdings zwischen den einzelnen Gesängen pwa_195.004
eines Epos gar wohl ein solches Zeitverhältniss stattfinden darf: pwa_195.005
in einem Drama aber wäre damit nicht bloss gegen die Einheit der pwa_195.006
Zeit, sondern vielmehr gegen die Einheit der Handlung gefehlt; wir pwa_195.007
dürfen auch nicht zwischen zwei Auftritten in Gedanken mehr Zeit pwa_195.008
verfliessen lassen, als in der Wirklichkeit verfliesst: denn damit wäre pwa_195.009
der Verlauf unterbrochen, und es fehlte ein Glied in der Kette der pwa_195.010
Einheit; wie lang wir uns aber einen Zwischenact, der die Handlung pwa_195.011
unterbricht, in welchem nichts geschieht, denken wollen, ist durchaus pwa_195.012
gleichgültig, wenn nur die beiden Acte, die er trennt, innerlich eng pwa_195.013
und wesentlich zusammenhangen, wenn er nur nicht mit der Handlung pwa_195.014
auch die Einheit der Handlung unterbricht. Das alles haben jedoch pwa_195.015
die französischen Theoretiker und Dramatiker nicht beherzigt. Ohne pwa_195.016
die concentrierende Kunst der Alten zu besitzen, suchen sie dennoch pwa_195.017
ihren Stoff in den allerengsten Zeitraum zusammenzupressen, und ihre pwa_195.018
Einheit der Zeit ist in den meisten Fällen eben nur eine Einheit der pwa_195.019
Zeit, während sie bei den Alten zugleich und zuerst eine Einheit der pwa_195.020
Handlung ist. Die Einheit des Ortes aber erzwingen sie oft auf die pwa_195.021
lächerlichste Weise. Wenn in einem griechischen Drama die ganze pwa_195.022
Handlung, um stäts an demselben Ort geschehen zu können, etwa auf pwa_195.023
einem öffentlichen Platze vor sich geht, so stimmt das wohl zu dem pwa_195.024
ganzen Leben der Alten, das vom Könige bis zum gemeinen Manne pwa_195.025
herab mehr ein öffentliches als ein häusliches war: wenn aber ein pwa_195.026
französischer Dichter in einer und derselben Antichambre den Herrn pwa_195.027
des Hauses und seinen Kammerdiener ihre Liebeserklärungen machen, pwa_195.028
ihre Liebesintriguen anzetteln und ausführen lässt, so ist das doch pwa_195.029
ziemlich verkehrt.

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beiden Einheiten der Zeit und des Ortes haben, obgleich sie ihren pwa_195.032
Ursprung herleiten wollen aus dem Beispiel der Griechen und aus den pwa_195.033
Lehren des Aristoteles, diese verkehrten Ansichten haben ihren wahren pwa_195.034
Grund und Anlass dennoch ganz anderswo, in einer andern Verkehrtheit, pwa_195.035
die überhaupt den Kunstbestrebungen der neueren Zeit vielfach pwa_195.036
geschadet hat, in dem Wahne nämlich, überall in der Kunst, also pwa_195.037
auch im Drama, komme es vor allen Dingen auf äusserliche, sinnliche pwa_195.038
Täuschung, auf Illusion an. Freilich ist es die Aufgabe jedes Künstlers, pwa_195.039
das Schöne unter den Formen der Wirklichkeit anzuschauen und pwa_195.040
darzustellen, und in so fern wird es von ihm in demselben Masse gefordert pwa_195.041
werden, als es ihm dienlich ist, dass er die Formen der Wirklichkeit

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dürfen z. B. nicht in der zweiten Scene eine Begebenheit darstellen pwa_195.002
wollen, die denen der ersten Scene gleichzeitig wäre oder gar früher pwa_195.003
geschehen als diese: während allerdings zwischen den einzelnen Gesängen pwa_195.004
eines Epos gar wohl ein solches Zeitverhältniss stattfinden darf: pwa_195.005
in einem Drama aber wäre damit nicht bloss gegen die Einheit der pwa_195.006
Zeit, sondern vielmehr gegen die Einheit der Handlung gefehlt; wir pwa_195.007
dürfen auch nicht zwischen zwei Auftritten in Gedanken mehr Zeit pwa_195.008
verfliessen lassen, als in der Wirklichkeit verfliesst: denn damit wäre pwa_195.009
der Verlauf unterbrochen, und es fehlte ein Glied in der Kette der pwa_195.010
Einheit; wie lang wir uns aber einen Zwischenact, der die Handlung pwa_195.011
unterbricht, in welchem nichts geschieht, denken wollen, ist durchaus pwa_195.012
gleichgültig, wenn nur die beiden Acte, die er trennt, innerlich eng pwa_195.013
und wesentlich zusammenhangen, wenn er nur nicht mit der Handlung pwa_195.014
auch die Einheit der Handlung unterbricht. Das alles haben jedoch pwa_195.015
die französischen Theoretiker und Dramatiker nicht beherzigt. Ohne pwa_195.016
die concentrierende Kunst der Alten zu besitzen, suchen sie dennoch pwa_195.017
ihren Stoff in den allerengsten Zeitraum zusammenzupressen, und ihre pwa_195.018
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Zeit, während sie bei den Alten zugleich und zuerst eine Einheit der pwa_195.020
Handlung ist. Die Einheit des Ortes aber erzwingen sie oft auf die pwa_195.021
lächerlichste Weise. Wenn in einem griechischen Drama die ganze pwa_195.022
Handlung, um stäts an demselben Ort geschehen zu können, etwa auf pwa_195.023
einem öffentlichen Platze vor sich geht, so stimmt das wohl zu dem pwa_195.024
ganzen Leben der Alten, das vom Könige bis zum gemeinen Manne pwa_195.025
herab mehr ein öffentliches als ein häusliches war: wenn aber ein pwa_195.026
französischer Dichter in einer und derselben Antichambre den Herrn pwa_195.027
des Hauses und seinen Kammerdiener ihre Liebeserklärungen machen, pwa_195.028
ihre Liebesintriguen anzetteln und ausführen lässt, so ist das doch pwa_195.029
ziemlich verkehrt.

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Die so eben besprochenen und bekämpften Ansichten über die pwa_195.031
beiden Einheiten der Zeit und des Ortes haben, obgleich sie ihren pwa_195.032
Ursprung herleiten wollen aus dem Beispiel der Griechen und aus den pwa_195.033
Lehren des Aristoteles, diese verkehrten Ansichten haben ihren wahren pwa_195.034
Grund und Anlass dennoch ganz anderswo, in einer andern Verkehrtheit, pwa_195.035
die überhaupt den Kunstbestrebungen der neueren Zeit vielfach pwa_195.036
geschadet hat, in dem Wahne nämlich, überall in der Kunst, also pwa_195.037
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Täuschung, auf Illusion an. Freilich ist es die Aufgabe jedes Künstlers, pwa_195.039
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Zitationshilfe: Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873, S. 195. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wackernagel_poetik_1873/213>, abgerufen am 21.11.2024.